201 CD / Crossing the Channel
Beschreibung
Solcherart archaische meditative Gesänge, einstimmig oder in gleichbleibenden Intervallen, kanonisch oder über scheinbar endlos langsam schreitenden Grundmelodien, mit merkwürdigen Verzierungen, voller kompositorischer Geheimnisse, lassen sich kaum abschalten, vor allem nicht im Kopf. Für ihre suggestive Wirkung bedarf es keiner speziellen Aufgabenstellung. Doch das Ensemble Providencia aus Paris, bestehend aus Andrea Parias, Sarah Richards, Stéphanie Leclercq und Hanna Järveläinen, wollte sich auf Forschungsreise begeben. Die vier hatten sich vorgenommen, die Entwicklungszusammenhänge von Sprache und Musik zwischen England und Frankreich, also „Crossing the Channel“, in der Zeit des 11. bis 13. Jahrhunderts zu untersuchen. Welch ein Abenteuer!
Die Aufnahme fand in Beaulieu sur Dordogne statt, einem kleinen Ort in Südfrankreich, nächtens in einer akustisch einmalig schönen romanischen Kirche. Dort war es so still, dass sogar die Vögel, neugierig auf den Gesang geworden, im Abenddunkel noch lange die Kirche umkreisten. So eine Musik hatten sie seit Ewigkeiten nicht mehr gehört.
8 Bewertungen für 201 CD / Crossing the Channel
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Pizzicato 10/2012 –
Diese Platte katapultiert uns mit einem Sprung durch zehn Jahrhunderte und ermöglicht es uns, ein fabelhaftes Erbe, interpretiert von einem absolut perfekten Frauenensemble, neu zu entdecken. Man ist absolut fasziniert von der Genauigkeit und der perfekten Homogenität der Gesangsgruppe. Zu diesen technischen Eigenschaften muss man noch die künstlerische und spirituelle Leichtigkeit hinzufügen, mit der jede dieser Sängerinnen agiert, um diesem fabelhaften Schatz das richtige Leben einzuhauchen.
Auch wenn sie vom Kult losgelöst sind, also isoliert von ihrer ursprünglichen Funktion, bleiben diese bewundernswerten Seiten belastet von dem Wort des Ewigen, das sie diskret weitertragen, ohne es denen aufzuerlegen, die sich nur für die Schönheit und die künstlerische Perfektion der alten Meister interessieren, die für die meisten von ihnen anonym geblieben sind. Die Tatsache, dass diese Stücke zehn Jahrhunderte unbeschadet überstanden haben, zeigt deutlich, dass der menschliche Geist sehr wohl in der Lage ist, unsterbliche Werke zu schaffen, wenn er versucht, das Unergründliche zu erforschen, wenn er den gegenwärtigen Moment in die unendliche Ewigkeit verankern möchte.
PiRath, Pizzicato
Klassik heute –
–> Original-Kritik
Klassik heute Höchstnote
Die auf dieser CD versammelten Werke geben einen Einblick in vier Jahrhunderte geistlicher und weltlicher Musik, welche uns von Dichtern und Musikern zu beiden Seiten des Ärmelkanals hinterlassen wurde. Sie bezeugen die Vielseitigkeit ihrer Ausdrucksmittel, sei es der Sprachen oder der Kompositionstechniken, der Freiheit, mit der diese Mittel eingesetzt, angepasst und ausgetauscht wurden, und die starken Bande, welche diese beiden Territorien mit einer gemeinsamen kulturellen und politischen Geschichte verbinden. Wir möchten diese Mannigfaltigkeit hervorheben, den thematischen und klanglichen Reichtum der unterschiedlichen Texte erforschen und tun das mit dem Wunsch, die uns überlieferten Texte möglichst originalgetreu auszuführen und auf diese Weise wieder aufleben zu lassen.“ Mit diesen Worten erläutert das Ensemble Providencia im Beiheft die Beweggründe für die Einspielung der vorliegenden CD.
Vier Jahrhunderte bewegter europäischer Musikgeschichte will das aus vier Sängerinnen bestehende Ensemble also hier nachzeichnen. Mit der Einschränkung auf die Länder zu beiden Seiten des Ärmelkanals erhält ihre Reise den zusätzlichen Reiz eines kulturellen Austausches, der von englischer Seite zunächst nicht ganz freiwillig war: Schon vor der normannischen Eroberung Englands 1066 bestand hier Jahrhunderte lang ein reges geistliches Leben auf kulturell hohem Niveau, das von den normannischen Eroberern zunächst kaum zu Kenntnis genommen wurde. Die Beziehungen der neuen englischen Führungsschicht aus dem normannischen Adel nach Frankreich waren hingegen eng, französisch waren Sprache und Sitten, auch verstärkte vielfacher Grundbesitz des anglonormannischen Adels in Frankreich die Bande zwischen beiden Ländern. Die langwierigen Auseinandersetzungen zwischen England und Frankreich im Hundertjährigen Krieg während des 14. und 15. Jahrhunderts und englische Ansprüche auf den französischen Thron, die bis 1802 aufrechterhalten wurden, zeigen deutlich die engen Verflechtungen beider Länder im Mittelalter, die im Zeitalter der aufblühenden Nationalstaaten nur unter Schmerzen zu lösen waren.
Zwei Sopranistinnen und zwei Mezzosopranistinnen machen das Ensemble Providencia aus, im Mai 2011 wurde diese CD in einer romanischen Kirche in Südfrankreich aufgenommen. Die Stimmen der vier Sängerinnen mischen sich perfekt, gebannt lauscht man den Melodien, die in fremdartig schwingender Rhythmik wie aus einer anderen Welt herüberwehen. Diese ganz eigenartigen Klänge haben vor Jahren 25 dem ebenfalls aus vier Sängerinnen bestehenden Ensemble Anonymous 4 einen überwältigenden internationalen Erfolg beschert, den man dem Ensemble Providencia ebenfalls wünschen möchte. Diese CD, die überdies noch perfekt in einer bestechend natürlichen Akustik aufgenommen ist, wird zweifellos dabei helfen.
Detmar Huchting
Fono Forum 06/2012 –
Fast modern klingen diese mittelalterlichen Gesänge, wenn in der Motette „Hare, hare, hye“ zwei bewegte Oberstimmen zwei unterschiedliche Texte vortragen: In pikardischer Sprache wird das bedauernswerte Schicksal der Menschen in Arras geschildert, die von den Engländern das Bier teuer kaufen müssen. Datunter stottert der Tenor immer nur das Wort „Balaam“. Eine volkstümliche Szene wird hier beschworen, dahinter steckt aber ein kompliziertes Kompositionsverfahren. Auf ihrer CD stellen die vier Frauen des Ensembles Providencia zahlreiche solcher Beziehungen zwischen England und Frankreich im Mittelalter vor. Ein eindrucksvolles Beispiel ist das berühmte Winchester Tropar aus dem 11. Jahrhundert, die früheste Quelle mit mehrstimmiger Musik, die in Frankreich geschulte Mönche für die Reformkathedrale in Winchester anlegten.
Eines der schönsten Stücke der CD ist die Motette „Ex semine“ aus dem 13. Jahrhundert. Die Oberstimmen schwingen im sanften Rhythmus in bewegten Melodien. Sie singen zwei geistliche Betrachtungen über die jungfräuliche Geburt „ohne Samen“ und werden beständig grundiert von der Unterstimme, die als Gegenposition das Wort „ex semine“ – „Aus einem Samenkorn“ vorträgt. Dem Ensemble Providencia gelingt es, die für unsere Ohren doch fremd anmutende Musik durch eine glockenklare Intonation, durch ein Auskosten der klanglichen Reibungen und durch eine sorgfältige Artikulation der vielen Dialekte und Sprachen, vom Anglonormannischen bis zum Mittelenglischen, erlebbar zu gestalten. Da spielt es fast keine Rolle, ob Motette, Conductus, Rondellus und wie diese Gattungen alle heißen, im Mittelalter wirklich vonFrauen gesungen wurden oder nicht.
Richard Lorber, Fono Forum
Pizzicato 06/2012 –
Supersonic Award
Mit dieser Aufnahme präsentiert uns das Ensemble Providencia einen faszinierenden Schatz mittelalterlicher Musik vom 10. bis zum 13. Jahrhundert. Man ist geblendet von der Reinheit der Stimmen, die das Gefühl einer zeitlosen Ewigkeit verstärken, das von dieser Musik ausgeht. Diese Stimmen sind absolut rein und ohne die geringste Schwäche. Sehr ausgewogen miteinander ermöglichen sie eine perfekte Lesbarkeit des polyphonen Diskurses, der sich in dieser Musik entfaltet. Sicherlich alte Musik, aber erstaunlich frisch und mit einer Lebendigkeit, die uns über das Jahrtausend hinweg bewegen kann, das uns davon trennt.
PiRath, Pizzicato
BR-Klassik Radio Studio Franken, Klassik Plus –
Betörende Andachtsmusik aus dem England des 13. Jahrhunderts. „Providencia“ heißt dieses vielversprechende junge Pariser Ensemble, das beim Label Tacet nun seine Debüt-CD vorgelegt hat. Unter dem Titel „Crossing the Channel“ spüren die vier Sängerinnen den Wechselbeziehungen zwischen England und Frankreich im Mittelalter nach. Das Spektrum reicht vom 10. bis ins 13. Jahrhundert, vom Organum bis zum Chanson, vom Lateinischen über das Mittel-Englische bis zu verschiedenen Varianten des Französischen. Das älteste Stück stammt aus dem berühmten Winchester Tropar, der ersten großen Sammlung liturgischer Mehrstimmigkeit, aufgezeichnet von englischen Mönchen, die zuvor nach Frankreich gereist waren und den dortigen Klostergesang studiert hatten. Wie interpretiert man Musik, die tausend Jahre alt ist? Von der oft nicht einmal die genauen Tonhöhen überliefert sind? Das Ensemble Providencia geht respektvoll mit den Quellen um, rekonstruiert sorgfältig, singt makellos und meditativ, ein bisschen in der Nachfolge des berühmten Quartetts „Anonymous 4“. Ein wirklich respektables Debüt.
Thorsten Preuß
SWR2 –
Engelsgleiche Musik mit dem Ensemble Providencia (…) Dieses Quartett sollten Sie im Auge bzw. im Ohr behalten!
Bettina Winkler
Musica Sacra – Die Zeitschrift für katholische Kirchenmusik – 3/2012 –
Auf einer ganzen Reihe von zeitbezogenen Aufnahmen weltlicher und geistlicher Vokalmusik sind Mariengesänge zu entdecken, so auf der beglückenden CD des exquisiten Labels TACET, das mit früher Mehrstimmigkeit (und einstimmig) den Sprung über den Ärmelkanal wagt(…)
hg
Music Web International –
–> Original-Kritik
Diese CD gibt einen Überblick über die allmähliche Entwicklung der polyphonen Musik von der Gregorianik in England und Frankreich während des Zeitraums vom zehnten bis zum dreizehnten Jahrhundert. Zwei der vier Sängerinnen – Maria Andrea Parias und Sarah Richards – waren für die Auswahl der Stücke verantwortlich, die aus Manuskripten von Orten wie Worcester, Cambridge, Oxford, London, Montpellier, Bamberg und Wolfenbüttel stammen. Sie zeichneten sich auch für die äußerst informativen und umfangreichen Booklet-Notizen verantwortlich: sechs Seiten, die die Musik in ihrem historischen Kontext analysieren.
Die Notizen im Booklet zitieren einen Bericht des Mönchs Thierry von Amorbach aus dem zehnten Jahrhundert über Aufführungen von vier Brüdern der Abtei Saint-Benoit de Fleury, „von denen zwei dem ‚üblichen Gesang‘ folgten, während die anderen beiden die ‚Begleitung‘ lieferten.“ Dieser Bericht diente als Grundlage für die Rekonstruktion einiger der Organa, die hier aus dem Winchester Troper stammen, der in der Bibliothek des Corpus Christi College in Cambridge erhalten ist. Diese Rekonstruktionen klingen sehr überzeugend, obwohl es, wie es bei Studierenden mittelalterlicher Musik immer der Fall ist, unterschiedliche Meinungen über die Vorzüge jeder Rekonstruktion geben wird, so viele Musikologen es gibt, die sie bereitstellen. Die späteren Werke hier basieren auf Manuskripten, die weniger redaktionellen Eingriff erfordern, obwohl es auch hier Meinungsverschiedenheiten über den Stil der Aufführung geben kann. Diejenigen hier basieren auf Thierry von Amorbachs Bericht, mit zwei Stimmen pro Partie in den früheren polyphonen Stücken.
Der einzige wirkliche Dissenspunkt bei diesen Aufführungen wird daher in der Verwendung von Frauenstimmen liegen – etwas, womit die mittelalterlichen Mönche sicherlich nicht gerechnet hätten. Allerdings wäre es angesichts der Tatsache, dass zwei der Mitwirkenden auch die Herausgeber der Werke sind, kleinlich zu klagen, insbesondere wenn sie so gut singen. Wir haben uns daran gewöhnt, Frauen in Stücken dieser Zeit zu hören, resultierend aus Aufnahmen der Musik von Hildegard von Bingen, aber diese eher schlichten und früheren Stücke profitieren von der gleichen Art der Behandlung. Die sanft kollidierenden „Harmonien“ in Stücken wie dem eröffnenden „Christus resurgens“ reichen über die Jahrhunderte hinweg, um sich mit Tavener – dem modernen, versteht sich – zu verbinden, und die Zeit wird vernichtet.
Die meisten hier präsentierten Musikstücke sind anonym, aber es ist interessant, auf ein Contrafactum zu stoßen – neue Texte, die zu einem bestehenden Lied gesetzt wurden -, das auf dem Liebeslied „Bien doit chanter“ von Blondel de Nesle basiert, das Historikern als der Troubadour bekannt ist, der angeblich Richard Löwenherz aus der Gefangenschaft gerettet hat. Diese „fromme“ Version wird a cappella gesungen und verbringt recht charmant die Hälfte ihres ersten Verses damit, Blondels konventionellere Version der Leidenschaft zu tadeln, bevor sie sich ernsthafter der Lobpreisung der Jungfrau Maria widmet. Das Lied „Worldes blis“ beginnt a cappella, erweitert sich dann jedoch, um das gesamte Ensemble einzubeziehen.
Mit den späteren Werken auf dieser CD betreten wir vertrauteres Terrain, und im „Motette“ „Hare, hare, hye“ finden wir ein Trinklied ähnlich denjenigen in Werken wie Carmina Burana, das David Munrow vor vierzig Jahren der modernen Welt vorstellte. Die Worte enthalten Zeilen wie „Es ist ein Wunder, dass diese Normannen sich nicht übergeben haben.“ Die Schlusskadenz des „Alleluia Nativitas“ stammt von einem ähnlichen Stück von Pérotin, und Stücke wie dieses weisen mehr als eine oberflächliche Ähnlichkeit mit Musik aus der Notre-Dame-Schule auf. Mit dem Aufkommen der Musik dieser Schule ab 1275 endet diese faszinierende und lohnende Studie.
Der Gesang, wie bereits festgestellt wurde, ist äußerst gut. Die Aufnahme ist ebenfalls ausgezeichnet, mit reichlich Hall, aber ohne übermäßige Resonanz, die die kristallklare Klarheit der einzelnen Stimmen trüben würde. Die Booklet-Notiz weist auf entfernte Vogelgeräusche von außerhalb der Kirche hin, obwohl die Aufnahmen spät am Abend und nachts gemacht wurden. Man möchte denken, dass sie von der Musik angezogen wurden. Jedenfalls sind ihre stimmlichen Beiträge kaum wahrnehmbar und bedürfen keiner Entschuldigung.
Das Booklet enthält die vollständigen Texte in den Originalsprachen – nicht nur Latein, sondern auch mittelalterliches Französisch und Englisch – mit ausgezeichneten Übersetzungen in modernes Englisch, modernes Französisch und Deutsch. Die Ärmelnotizen wurden ursprünglich auf Französisch verfasst, aber die englische Übersetzung ist sowohl idiomatisch als auch informativ und bietet eine sehr umfassende und detaillierte Liste aller verwendeten Quellen. Ein Musterbeispiel dafür, wie solches Material präsentiert werden sollte.
Paul Corfield Godfrey