203 CD / The Welte Mignon Mystery Vol. XIX. Alexander Glazunov
Beschreibung
Die neunzehnte Welte-CD von TACET. Etwa 10 weitere Projekte wurden bereits aufgenommen, sodass die Serie bald 30 Veröffentlichungen umfassen wird. Um was geht es? Die Firma Welte in Freiburg meldete 1904 ein Verfahren zum Patent an, welches die Feinheiten von Klavierspiel auf Papierrollen aufzeichnet. Diese historischen Dokumente aus der Zeit ca. 1905 bis 1930 standen bisher nur in eingeschränkter Qualität zur Verfügung. Ungenügende Abspieleinstellungen der Tonrollen vor allem beim Tempo, aber auch bei den Lautstärkeverhältnissen oder beim Anschlag verhindern oft, dass man sich eine Vorstellung von der seinerzeitigen Interpretation machen kann. Das hat sich dank der langjährigen Recherchen des Restaurators und Sammlers Hans W. Schmitz deutlich verbessert. Die Aufnahme mit Stücken von Alexander Glasunow aus dem Jahr 1910, die meisten selber von ihm gespielt, zeigt das erneut eindrücklich.
Video über das Welte Mignon Reproduktionsklavier mit dem Experten Hans W. Schmitz
1 Bewertung für 203 CD / The Welte Mignon Mystery Vol. XIX. Alexander Glazunov
Du mußt angemeldet sein, um eine Bewertung abgeben zu können.
Klassik heute –
Das Klavierwerk, viel mehr noch: das Gesamtwerk Alexander Glasunows ist auf den verschiedensten Ton- und Bildträgern nur in Ausschnitten ein Thema für die in Frage kommenden Interpreten, Veranstalter und Produzenten. Im Allgemeinen wird das Violinkonzert in a-Moll gespielt, der Konzertwalzer op. 47 und Auszüge aus dem Ballett Raymonda – und damit wären wir schon fast am Ende, wenn es nicht die beiden Klavierkonzerte und die zwei Sonaten für Klavier gäbe, aber auch sie sind Randerscheinungen und damit eher Material für Spezialisten geblieben.
Etwas Abhilfe bei diesem medialen Notstand bietet nun die 19. Folge der Reihe „The Welte Mignon Mystery“, die von den unermüdlichen Tacet-Aktivisten in verlässlicher, soweit ich es beurteilen kann, auch fehlerloser Weise präsentiert wird. Glasunows musikalischer Anspruch in diesem Programm mit zwei Klavierminiaturen im Prélude-Format, mit einem Sonatensatz (op. 74) und hübschen Ausschnitten aus Ballett-Kompositionen ist kaum zu überschätzen. Doch es lohnt sich wieder einmal, sozusagen hauptamtliche Komponisten als Klavierinterpreten ihrer Werke (und gelegentlich auch „fremder“ Stücke) zu erleben. Ich denke da an Camille Saint-Saëns‘ schier abenteuerlich verrutschte Umdeutung des langsamen Satzes aus Beethovens Sonate op. 31,1 (Tacet 159), aber auch an Rolleneinspielungen von Grieg, Leoncavallo und Richard Strauss.
Glasunow empfand sich nicht als Konzertpianist. Er war ein guter Klavierspieler, für seinen Beruf als Autor und als Pädagoge pianistisch genügend gerüstet, bekanntlich aber auch mit einer großen Anzahl an bürokratischen, amtlichen und kulturpolitischen Aufgaben mehr als ausgelastet. Und immer wieder hört und liest man, wie geachtet, ja beliebt dieser umtriebige Mann in all seinen Geschäften bis weit ins Private war. So wäre es völlig unangebracht, mit diesen reichlich 100 Jahre alten, wie immer bei Tacet „modern“ vitalisierten Einspielungen raffinierte Klavierkunst zu erleben. Es handelt sich schlicht und einfach um ein wertvolles Dokument.
Auf den Welte-Rollen wird für Glasunows Sonate op. 75 und für den Walzer op. 47 der Komponist als Ausführender angegeben. In den entsprechenden Katalogen der Firma ist der aus Tallinn stammende Artur Lemba genannt. Nicht zuletzt auf Grund des deutlich höheren klavieristischen Niveaus darf man davon ausgehen, dass es sich um Lemba handelt – einen Glasunov-Schüler am St. Petersburger Konservatorium. Er war der erste estnische Konzertpianist von „internationaler Geltung“, wie Christian Schaper im Booklet hervorhebt. Zusätzliche Argumente pro Lemba werden im Bereich der e-Moll-Sonate von Schaper u.a. so formuliert: „Schon in Anbetracht des Schwierigkeitsgrades können sie (die Rollen) wohl nur von Lemba eingespielt worden sein; der Unterschied ist aber nicht zuletzt ein stilistischer. Ganz im Gegensatz zum Komponisten Lemba, der stets der Klangsprache Tschaikowskys und Glasunows verpflichtet blieb, wirkt der Pianist mit seinem deutlich glatteren, akkuratern Spiel ziemlich modern – manchmal geradezu gegenwärtig.
Vergleichsaufnahmen: Sonate op. 74: Sirota (Arbiter 110); Sonaten op. 74 und op. 75: Hulbert (Bridge 9102).
Peter Cossé