255 CD / Cut or Uncut? Bruckner, Symphony no. 7
Beschreibung
2024 wäre Anton Bruckner 200 Jahre alt geworden. Anstatt mit blumigen, aber letztlich hilflosen Werbesprüchen die 100. CD zum Bruckner-Jahr anzupreisen, versuchen wir mit einer besonderen Veröffentlichung zum Nachdenken über Produktionsprozesse in der klassischen Musik anzuregen. Worum geht es bei einer Aufnahme eigentlich?
Die 7. Sinfonie von Anton Bruckner zweimal in voller Länge, jeweils auf einer CD. Eine Live-Aufnahme (Uncut) und eine produzierte, geschnittene (Cut) unter identischen Aufnahmebedingungen. Das bedeutet, das Urteil wird nicht durch unterschiedliche Verhältnisse bei den Aufnahmen beeinträchtigt. Vergleichen Sie!
Wir sind sehr glücklich, dass sich András Keller und Concerto Budapest, mit denen uns eine langjährige fruchtbare Zusammenarbeit verbindet (dies ist bereits die 8. Aufnahme), bereit erklärten, dieses Projekt zu ermöglichen! Mehr noch, die Idee zu dieser Gegenüberstellung entstand überhaupt erst im gemeinsamen Austausch nach den Aufnahmen. Mehr dazu im Beiheft.
András Keller folgt einer ungebrochenen europäischen Tradition, die weit in das vergangene Jahrhundert, vielleicht sogar bis zu Anton Bruckner zurückreicht. Die Art der Streicherbehandlung, die sinnliche Melodieführung in allen Instrumenten, die Gesanglichkeit in aller Virtu- und Furi-osität – sie rühren wehmütig altmodisch an und sind doch zeitlos modern. Und die monumentalen Bögen und Steigerungen in Anton Bruckners Musik sind wie geschaffen für die Frage jedes Hörers an sich selbst: Was will ich von einer Aufnahme? Was rührt mich mehr an, live oder produziert, cut or uncut?
Vergleichen Sie die ersten Minuten des ersten Satzes auf YouTube!
2 Bewertungen für 255 CD / Cut or Uncut? Bruckner, Symphony no. 7
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Klassik heute –
–> zur Original-Kritik
Als ich am 3. August 1995 die große Ehre und Gelegenheit hatte, Sándor Végh in seinem Haus in Salzburg zu interviewen (es sollte sein letztes Interview sein), äußerte er sich sehr glücklich, dass das Spiel seines legendären Végh-Quartetts eine Nachfolge-Formation gefunden habe im Keller-Quartett: „Es wird weiterhin große Musik gemacht und Bartók verstanden.“ Primarius András Keller war ein musikalischer Ziehsohn seines großen Landsmanns, und er hat damals mit seinem Quartett wunderbare Aufnahmen u. a. von Bartók und Schubert für Erato gemacht.
Nun hat sich András Keller schon lange dem Dirigieren zugewandt und für Tacet einen Bruckner-Zyklus begonnen, bei dem er sich mit seinem hervorragenden Concerto Budapest erfreulich viel Zeit lässt und mit klar strukturierten, fein empfundenen und das Drama der großen Form brillant entfaltenden und balancierenden Darbietungen heute als einer der besten Bruckner-Dirigenten dasteht, dessen Beispiel für den wachen Hörer so manchen Schnellproduzierer bloßstellt.
Einmal ungeschnitten, einmal nachbearbeitet
Die Aufnahme der Siebten Symphonie besticht mit einer Besonderheit, die wohl im Aufnahmejahr 2019 in der Luft lag – denn im selben Jahr hat der Verfasser dieser Zeilen in Barcelona mit dem Orquestra Camera Musicae die in vieler Hinsicht Bruckner sehr verwandte Dritte Symphonie von Martin Scherber uraufgeführt und aufgenommen und sich anschließend für die Veröffentlichung als Doppelalbum entschieden, auf welchem sowohl der absolut ungeschnittene Konzertmitschnitt als auch die Studioaufnahme vom Folgetag zu hören ist. Er sollte mit dieser ‚Pioniertat‘ nicht alleine sein. Nun also auch das Concerto Budapest, unter dem Motto ’Cut or Uncut?’, mit einer geschnittenen und einer ungeschnittenen Version von ein und derselben Symphonie vom Januar 2019 im Budapester Italienischen Institut – mit dem Unterschied, dass es sich um Aufnahmen aus dem gleichen Saal und ganz ohne Publikum handelt. Die Hörer werden übrigens hier vom Produzenten ganz offen aufgefordert, mitzuteilen, was ihnen mehr zusagt, und natürlich tue ich das an dieser Stelle auch.
Bei einmaligem Hören ziehe ich den ungeschnittenen Mitschnitt vor, denn er hat den noch natürlicheren Flow. Jedoch ist die geschnittene, in den Details optimierte Aufnahme von der musikalischen Qualität sehr nah dran an der unbearbeiteten, und von daher ist auf Dauer wohl doch die nachträglich verbesserte Aufnahme vorzuziehen, weil nicht die selben kleinen Pannen (sie sind sehr unerheblich) durch Wiederholung stören. Aber: es ist wirklich alles sehr nah beieinander und letztlich jedem selbst überlassen, was ihm mehr zusagt. Das Adagio ist auf die Sekunde gleich lang.
Ausgezeichnete Einspielung
Die Tempi sind sehr natürlich gewählt, überwiegend eher auf der kontemplativen als auf der triebhaft straffen Seite. Die kontrapunktische Transparenz und sanglich sinnfällige Ausphrasierung der Haupt- und wichtigsten Nebenstimmen sind weitestgehend exzellent realisiert, auch für die Dramaturgie der harmonischen Entwicklung hat Keller ein feines Gespür. Mir scheint, dass ihm in einigen entscheidenden Tutti-Passagen ein paar Streicher zu wenig zur Verfügung stehen, um eine ideale Kraft und Pracht zu entfalten, aber das wird sehr überzeugend kompensiert. Wenn auf etwas im Besonderen noch hingewiesen werden sollte, so darauf, dass es auch im Pianissimo-Tremolo möglich sein sollte, die Stimmverläufe und harmonischen Abfolgen deutlicher hervorzubringen und damit eine gelegentlich wesentliche zusätzliche Dimension der Kontrapunktik hinzuzufügen, und dass auch Pizzicati mit kantablem Ausdruck gestaltet werden können. Die abrupten Tempo- und Charakterwechsel im Finale sind weitestgehend sehr plausibel zur Geltung gebracht, die Steigerung im langsamen Satz ist gut zum Höhepunkt hin disponiert, das Scherzo hat den Drive und Biss, den es braucht, und die Einleitung der Coda des Kopfsatzes ist sehr spannungsvoll gestaltet mit ihren synkopischen Einsätzen nach der Eins – um einige wesentliche, meist kritische Punkte zu benennen. Insgesamt eine ausgesprochen bemerkenswerte Veröffentlichung, mit einem exzellent besetzten und einstudierten Orchester (die Streicher an den heiklen Stellen sehr sauber!) und einem musikalisch hochgebildeten Dirigenten mit klarem Kopf, tontechnisch grandios eingefangen und didaktisch unterhaltsam im Booklettext von Tonmeister und Produzent Andreas Spreer. Eine vorbildliche, originelle, wertvolle Produktion.
Christoph Schlüren
Pizzicato –
–> Originalkrititk
Diese Aufnahme von Bruckners Siebenter mit Concerto Budapest unter der Leitung von Andras Keller liegt in zwei Fassungen vor, einer ungeschnittenen, die aus einer einzigen, ununterbrochenen Aufführung (ohne Publikum) stammt, ohne Schnitte und Korrekturen, und einer zweiten die aus mehreren Aufnahmesitzungen zusammengeschnitten wurde.
Im Textheft ist genau erklärt, wie beide Versionen und insbesondere die geschnittene entstanden, und Tacet-Chef Andreas Spreer richtet sich am Ende seiner Erklärungen an den Hörer mit der Frage, welche der beiden Fassungen ihm am besten gefalle. Aufgrund vergleichenden Hörens (Satz für Satz) behaupte ich ohne Zögern: die geschnittene! Sie klingt halt eben sauberer, ohne dafür an Wirkung oder Authentizität zu verlieren. Gemacht klingt diese Fassung ganz sicher nicht.
Insgesamt dirigiert Keller eine stimmungsvolle, sehr geschlossene Einspielung ohne jede Exzentrizität. Die Budapester Musiker musizieren unter Kellers Leitung einen pulsierenden, weit schwingenden, in der Struktur breiträumig ausgeleuchteten Bruckner. Kräftige Akzente und ein gutes Verhältnis zwischen Atmung und Gangart machen aus der Aufnahme eine gute, im besten Sinne klassische und traditionelle Interpretation.
Remy Franck