159 CD / The Welte Mignon Mystery Vol. IX: Camille Saint-Saëns
Beschreibung
Camille Saint-Saëns war eine Jahrhundertbegabung, ja ein regelrechtes Universalgenie. Doch der Dichter, Dramatiker, Philosoph, Astronom, Biologe, Archäologe, Ethnologe, Zeichner und Karikaturist Saint-Saëns ist heute ebenso vergessen wie der Pianist – und wie es selbst der Komponist zwischenzeitlich war. Dabei hat ihn das Klavier über ein Dreivierteljahrhundert, vom Wunderkind bis zum letzten Tag, auf einer beispiellosen Karriere begleitet…
6 Bewertungen für 159 CD / The Welte Mignon Mystery Vol. IX: Camille Saint-Saëns
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Pianiste –
DIE LEKTIONEN DER VERGANGENHEIT
Die Magie der Welte-Mignon
Debussy, Ravel, Mahler, Einecke, Grieg, Granados… spielen ihre Werke.
Würden Sie gerne Ravel, Debussy, Strauss, Saint-Saëns, Reger hören, wie sie auf einem modernen Klavier ihre eigenen Werke spielen? Und was halten Sie von einer „perfekten“ Wiedergabe der Interpretationen der ersten Horowitz, Fischer, Lhévinne und anderer wie Schnabel? Das deutsche Label Tacet bietet eine Anthologie der Rollen, die mit dem Welte-Mignon-Verfahren aufgenommen wurden. Das System ist einfach, aber der Wiedergabeprozess ist besonders komplex! Tatsächlich wurden die von den Komponisten selbst gespielten Stücke mit dem 1904 von der Firma Welte & Söhne in Freiburg erfundenen Gerät digitalisiert. Die damaligen Lochrollen haben den Anschlag, das Pedalspiel und die feinsten Nuancen aufgezeichnet. Heute muss man diese Aufnahmen einfach auf ein Konzertklavier übertragen.
Es ist daher ein echter Schock, die „Children’s Corner“ und einige Préludes von Debussy zu hören, aber auch die „Sonatine“, die „Valses nobles et sentimentales“ von Ravel unter den Fingern der Komponisten selbst zu erleben. Welche Lektionen ziehen wir daraus? Zunächst einmal die erstaunliche Freiheit dieser beiden Genies in Bezug auf ihre Partituren! Es ist auch wahr, dass das Spiel von Ravel nicht immer perfekt in der Ausführung ist… Aber wenn man den rein technischen Aspekt überwindet, wird die extreme Feinheit und die Personalisierung der Anschläge deutlich. Die Dynamik ist meist zart, die Finger scheinen das Klavier nur zu streifen. Ohne jede Brutalität. Die Klarheit und Sanftheit sind verblüffend. Andere Beispiele sind ebenso beeindruckend, wie die beiden Bände, die sich mit Werken von Brahms befassen, die von Nikisch, Lhévinne, Samaroff, Ney oder auch die Etüden von Chopin, gespielt von Pachmann und Paderewski, interpretiert wurden…
Die Virtuosität der Pianisten ist erstaunlich, aber noch mehr überrascht die Leidenschaft, das Engagement, manchmal sogar die Zierlichkeiten und die unpassenden Verzierungen, die manche Pianisten wie Ticks hervorrufen. Aus all diesen Meisterlektionen bleibt uns eine Erkenntnis: Die stärksten Persönlichkeiten entfalten sich nur nach einem tiefen und viszeralen Verständnis der Werke. Schnabel in den Walzern von Josef Strauss und Josef Lanner (wer würde das heute noch spielen?), Horowitz 1926 in einigen Préludes von Rachmaninov – sie sprechen uns an. Woher rührt der Charme und die unwiderstehliche Ausstrahlung ihrer Lesarten? Ein Rätsel.
Jedes Jahr veröffentlicht Tacet drei oder vier neue CDs aus den Welte-Mignon-Archiven. Unbedingt sammeln.
S. F.
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Französischer Originaltext:
LES LEÇONS DU PASSÉ
La magie des Welte-Mignon
Debussy, Ravel, Mahler, Einecke, Grieg, Granados… jouent leurs œuvres.
Vous aimeriez entendre Ravel, Debussy, Strauss, Saint-Saëns, Reger jouant sur un piano d’aujourd’hui leurs propres Oeuvres? Et que diriez-vous aussi d’une restitution « parfaite » des interprétations des premiers Horowitz, Fischer, Lhévinne et autres Schnabel? Le label allemand Tacet propose une anthologie des rouleaux gravés par le procédé Welte-Mignon. Le système est simple, mais le procédé de restitution particulièrement complexe! En effet, les pièces jouées par les compositeurs eux-mêmes ont été numérisées à partir de l’appareil inventé en 1904 par la firme Welte & Fils de Fribourg. Les rouleaux perforés de l’époque ont capté le toucher, le jeu des pédales et les nuances les plus fines. Il suffit aujour¬d’hui de transférer ces témoignages sur un piano de concert.
C’est donc un véritable choc que d’entendre dans un confort d’écoute optimal les Children’s Corner et quelques Préludes par Debussy, mais aussi la Sonatine, les Valses nobles et sentimentales de Ravel sous les doigts des compositeurs. Quelles leçons en retirons-nous? D’abord, l’étonnante liberté de ces deux génies vis-à-vis de leurs partitions! Il est vrai aussi que le jeu de Ravel n’est pas d’une justesse infaillible… Mais si l’on dépasse l’aspect purement technique, on s’aperçoit de l’extrême finesse et de la personnalisation des touchers. Les dynamiques sont généralement faibles, les doigts semblent effleurer le clavier. Sans aucune brutalité. La clarté et la douceur sont stupéfiantes. D’autres exemples sont frappants comme ces deux volumes consacrés à des œuvres de Brahms interprétées par Nikisch, Lhévinne, Samaroff, Ney ou bien les Études de Chopin par Pachmann et Paderewski…
La virtuosité des pianistes est stupéfiante, mais on est plus surpris encore par la fougue, l’engagement, parfois même les coquetteries, les ornementations intempestives que certains provoquent comme des tics. De toutes ces leçons de maîtres, on retient que les personnalités les plus fortes ne s’épanouissent qu’après une compréhension viscérale et profonde des œuvres. Schnabel dans les Valses de Josef Strauss et de Josef Lanner (qui oserait jouer cela aujourd’hui ?), Horowitz en 1926 dans quelques Préludes de Rachmaninov nous interpellent. D’où proviennent le charisme et le charme insensés de leurs lectures? Mystère.
Chaque année, Tacet publie trois ou quatre nouveaux CD des archives Welte-Mignon. À thésauriser.
S. F.
Audiophile Audition –
Der furchtlose Saint-Saëns spielt seine eigenen und die Werke anderer mit bemerkenswerter Ausgeglichenheit und technischer Souveränität.
„Ich produziere Musik so, wie ein Apfelbaum Äpfel produziert“, scherzte Camille Saint-Saëns (1835–1921) über seine eigene Kunst. Der vielseitige Komponist und Pianist nahm 1905, im Alter von siebzig Jahren, eine Reihe anspruchsvoller Klavierrollen für die Welte-Studios auf, die heute auf dem modernen Steinway in Stereo zu hören sind. (Das Welte-System verwendete einen „Vorsetzer“, ein 88-fingriges Gerät, das sich an jedes Klavier anschließen ließ und die Rollen „abspielte“.) Bekannt für außergewöhnlich schnelle Tempi, spielte Saint-Saëns einst sein Lieblingsscherzo, Chopins cis-Moll, für Artur Rubinstein. „Es war ein Bild vollkommener Notenpräzision, aber zu schnell.“
Die zahlreichen Solostücke sind leichte Salonstücke von eher unauffälligem Charakter. In seiner Aufführung seines eigenen, auf Victor Hugo basierenden Tonepos Omphale’s Spinning Wheel hört man den Bach-Einfluss, insbesondere aus dem C-Dur-Präludium, das das Wohltemperierte Klavier I eröffnet. Die Op. 66 Mazurka wird rhythmisch verschmiert und entwickelt sich zur Toccata, so rasch fliegen die Arpeggien und Läufe vorbei. Das Finale aus Samson et Dalila – der Tanz der Priesterinnen Dagon – zeichnet sich durch plastische Formgebung aus, eine Zierlichkeit, die fast an die Orchesterversion unter Beecham 50 Jahre später heranreicht.
Ein leichtes Ritardando zwischen beiden Händen erzeugt ein kontrolliertes Rubato, wie man es in der C-Dur-Rhapsodie d’Auvergne hören kann, farblich geschickt, aber sparsam im Einsatz von Pedaleffekten. Das filigrane Mittelsegment – reich an „afrikanischen“, Zither- und Non-Legato-Effekten – bewegt sich mit erstaunlicher Leichtigkeit, der Ausdruck nahe am Egyptian Concerto. Erinnern wir uns, dass für Saint-Saëns „Afrika“ Algier bedeutete. Das Op. 60-Fragment enthält Wirbel aus Klangfarben, innere Agogik und tänzerische Rhythmen in sinnlicher Bewegung. Eine kleine Gavotte in F sprüht und klingt hell, schon auf die späteren Komponisten Ibert und Poulenc vorausweisend. Die Valse mignonne in Es spielt sich als stilvolle Bagatelle, eine weitere brillante Etüde mit Musikbox-Charakter.
Der zweite Satz der Beethoven-Sonate G-Dur erhält eine deutlich „galante“ Behandlung und wird zu einer Mischung aus Gavotte und verzierten Etüden in der rechten Hand. Der linke Hand-Puls bleibt beständig, typisch für die Pädagogik von Hummel und Chopin. Die Energie scheint aus Saint-Saëns’ Handgelenken und Fingern zu kommen, der Puls unvermeidlich wie Ahabs Streben nach seinem Schicksal. Die wirbelnden Synkopen beim Da-Capo sind geschickt ausgeführt, die Oberstimme die Seele voller gezeichneter Klarheit. Die natürliche Zuneigung der Franzosen zu Schumann wird in der Aufnahme von Abschied aus den Waldszenen deutlich, deren komplexe Kontrapunktik und wogende Synkopen für den unerschrockenen Saint-Saëns keine Hürde darstellen. Man darf sich fragen, ob Saint-Saëns’ direkte Herangehensweise bei Chopin mehr Stilwahrheit transportiert als die manierierten Methoden moderner Anhänger.
Das Nocturne ist weder prosaisch noch selbstverliebt, seine innere Geschwindigkeit entspringt von innen. Ohne Pedal stürzen die Töne übereinander und erzeugen ein lyrisch nüchternes Erlebnis. Die berühmte Etüde in E bewegt sich wie Uhrwerk, unsentimental und zügig; das Trio, attacca, entfaltet einen blendenden Notenstrom, die Akzente scharf, bis ein ausdrucksstarkes Ritardando und das Da-Capo folgen, fast spartanisch in seiner Resistenz gegenüber Veränderungen.
Gary Lemco
Klassik heute –
Akustische Rückblicke in die Vergangenheit anno 1905. Camille Saint-Saëns spielt eigene Werke, Ausschnitte aus seinen (für Klavier adaptierten) sinfonischen Kompositionen – und auf völlig unerschrockene, nämlich stilistisch für heutige Begriffe ungekämmte, sorglose Weise auch Stücke aus dem klassisch-romantischen Repertoire. Wer Ohren hat zu hören, der mag etwa bei Saint-Saëns’ Umgang mit dem langsamen, skurril-melodiösen, reich verzierten Satz aus Beethovens Sonate op. 31,1 seine Probleme anmelden (sofern er Aufnahmen mit Kempff, Brendel oder auch Radio-Mitschnitte mit Sokolov in Erinnerung hat). Doch wie schön ist es zu verfolgen, wie seinerzeit die Interpreten (und in diesem Spezialfall ein Komponist) die ihnen vorliegenden Partituren gelesen, gedeutet haben. Das knistert, das wackelt und vibriert; es ist ein kurzfristiges Lesen und Erschauern, als habe der Spieler – ohne jede Kenntnis anderer Deutungen – Kontakt zu den überlieferten Schöpfungen aufgenommen.
Die Tonqualität dank der Welte-Mignon-Technik ist unter Verwendung eines heutigen Instruments vorzüglich. Es handelt sich also nur bedingt um eine historische Aufnahme. Lediglich die von Saint-Saëns verfügten gestalterischen Daten sind Musikgeschichte aus der Steinzeit der musikalischen Aufzeichnung. So darf man den Tacet-Leuten besten Gewissens bescheinigen: ihre Welte-Mignon Mystery Vol. IX ist Teil einer Initiative, die Vergangenheit und Gegenwart auf technisch erdenklich höchstem Niveau versöhnt und zu einem geradezu rührenden Erlebnis macht.
Peter Cossé
Stuttgarter Zeitung –
„Hut ab, ihr Herrn, ein Genie!“ Mit diesen Worten hatte Schumann einst Chopins Debüt begrüßt. Ein Genie am Klavier muss auch Camille Saint-Saëns gewesen sein. Er war einer der wenigen, die der Klaviertitan Liszt neben sich gelten ließ. Wie viel Saint-Saëns von diesem Ruhm über die Zeit rettete, lässt sich an den Welte-Mignon-Aufnahmen nachprüfen, die der Siebzigjährige 1905 einspielte. Neben glitzernden Salonpetitessen und Orchestertranskriptionen wie dem unermüdlich wirbelnden „Spinnrad der Omphale“ befinden sich bekannte Klavierwerke. Das Adagio grazioso aus Beethovens Sonate G-Dur op. 31 Nr. 1 bewältigt er mit straffer Eleganz, Chopins Nocturne Fis-Dur op. 15 Nr. 2 sowie die berühmte E-Dur-Etude aus op. 10 mit Zartheit, Anmut und Präzision. Saint-Saëns’ Spiel lässt uns einen aufschlussreichen Blick auf das klassizistische Klavierideal des 19. Jahrhunderts werfen. Zügige Tempi, perlende Läufe und ein leichter Anschlag verbinden sich mit einem freizügigen Rubato und dem immer wieder als artikulatorisches Stilmittel eingesetzten Auseinanderdriften beider Hände – wohl ein Erbe Chopins, das man noch bei Alfred Cortot findet. (…) Eine veritable Entdeckung, die man ruhig als sensationell bezeichnen darf!
usc
klassik.com –
–> zum Original-Artikel
(…) Man kann wohl mit Recht von einem der interessantesten und bedeutendsten gegenwärtigen Projekte im Bereich Klaviermusik sprechen, wenn diese Klavierrollen systematisch aufgenommen und somit ihr Inhalt für die Allgemeinheit zugänglich gemacht wird. Im Rahmen der Reihe ‚The Welte-Mignon Mystery’ ist das Label Tacet mit dieser lobenswerten Aufgabe beschäftigt; (…)
NDR Kultur –
Heute werden sie vor allem als Komponisten wahrgenommen: Bach und Mozart genau wie Richard Strauss, Hindemith oder Schostakowitsch. Doch die Musikschaffenden der Vergangenheit waren immer auch gleichzeitig Interpreten. Erst dank der Möglichkeiten der Tonaufzeichnung konnte auch für die Nachwelt dokumentiert werden, wie Komponisten ihre eigenen Werke oder die ihrer Kollegen aufführten. Die Reihe „Welte-Mignon“ des Labels Tacet hat bereits eine Reihe von alten Klavieraufnahmen restauriert. Die jüngste CD ist Camille Saint-Saëns gewidmet.
Wann ist ein Wunderkind ein Wunderkind? Wenn es über ein fotografisches Gedächtnis verfügt? Wenn es seine erste Klavierschule nach nur einem Monat abgeschlossen hat? Wenn es mit zehn Jahren alle 32 Beethoven-Klaviersonaten auswendig kann? Wenn dem so ist, war Camille Saint-Saëns ein echtes Wunderkind.
Der letzte große Höhepunkt Saint-Saëns′ Pianistenkarriere erlebte mit ihrem 75. Bühnenjubiläum ihren letzten großen Höhepunkt. Das war 1921, neun Jahre nach der Geburt von John Cage. Begonnen hatte sie 1846, drei Jahre vor Chopins Tod. Im November und Dezember 1905 begab sich der damals 70-jährige Saint-Saëns ins Welte-Studio, um an dem dortigen Flügel Aufnahmen zu produzieren. Jetzt liegen diese Mitschnitte in atemberaubend lupenreiner Klangtechnik als CD vor.
Saint-Saëns′ Klavierspiel zeichnet sich durch eine verblüffende Leichtigkeit aus. Selbst die virtuosen Passagen gelingen ihm mühelos und mit einer gewissen Eleganz. Der Komponist spielt luftig und schnörkellos, teilweise mit gewagt zügigen Tempi, wie in der folgenden Etüde von Frédéric Chopin.
Seine Gegner bezeichneten Saint-Saëns′ Klavierspiel gelegentlich als kühl und spröde, seine Bewunderer dagegen – darunter der Schriftsteller Romain Rolland – lobten die „vollkommene Klarheit“. Saint-Saëns bietet auf dieser CD auch Bearbeitungen eigener Werke, darunter die „Rhapsodie d’Auvergne“ – eine eigenartige Mischung aus Lokalkolorit, Salonstück und Konzertfantasie.
Man kann diese Reihe der Welte-Mignon-Aufnahmen in ihrer Bedeutung nicht genug schätzen. Gerade die Aufnahme mit Camille Saint-Saëns am Klavier liefert wichtige Einblicke in die damalige Spielkultur. Die oft freie Gestaltung der rechten Hand – bei starrem Rhythmus in der Linken – weist auf die Freiheiten hin, die sich die Musiker Ende des 19. Jahrhunderts erlaubt haben. Das erstaunt umso mehr, als vor allem Saint-Saëns als Präzisionsfanatiker galt.
Christoph Vratz