131 DVD-A / Claude Debussy: Prélude pour piano, „Les soirs illuminés par l’ardeur du charbon“
Beschreibung
„(…) Doch welche Einsichten in die Chemie, in die Bau- und Aufbauwunder dieser Préludes erlauben Koroliovs musikpathologische Sezierungen? Sie führen in das Innere dieser Gewebe, setzen für beängstigende und dann auch wieder beglückende Momente das Denken und Fühlen, alles je schon Erlebte außer Kraft. Sie zwingen auf friedfertige Weise, sich einem fremden, im nächsten Moment schon wieder familiären Erleben vorurteilslos auszusetzen.“ (Klassik-heute.de)
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Klassik heute –
Vorsicht ist geboten, liebe Musikfreunde! Denn Sie sind ja, wenn Sie sich für eine CD-Publikation entscheiden, auch Investoren. Die hier von Tacet protegierte DVD-Audio ist bereits als konventionelle CD erschienen und wurde im Handel unter der Nummer Tacet 131 offeriert, seinerzeit eine mit mehr als 86 Minuten großzügig bestückte CD-Gabe aus den begüterten Händen des russischen Pianisten Evgeny Koroliov. Mit einem enttäuschenden Nebeneffekt, denn bei gezielten privaten Kopieversuchen wird der eine oder andere gemerkt haben, dass etwa sein Windows Media Player-System die beiden letzten Stücke wegen Überlänge des Gesamtprogramms zurückwies. Nun also werden die 2003 in Oslo aufgenommenen Interpretation via Audio-DVD neu aufgelegt – ein Akt nicht nur der Konsumentenfreundlichkeit, sondern auch eine Möglichkeit für mich, auf Koroliovs unbedingte, besser: bedingungslos eigenwillige Debussy-Auffassung einzugehen.
Ganz im Gegensatz zu den mir bekannten Einspielungen der 24 Préludes – von denen einige in der Vergleichsrubrik angeführt sind – konzentriert, verbohrt sich Koroliov in fast allen Einzelstücken in eine Klang- und Bewegungsphilosophie der verlangsamten, der schier zeitlupenhaften Zeichnung und Intonation. Es ist aus der Perspektive des Hörers, als ob man diese Stücke wie unter dem Mikroskop erlebt, als ob man sie wie auf einer riesigen Leinwand abgebildet erfährt, also gleichsam zur Schau gestellt bekommt. In manchen folkloristisch, etwa spanisch angehauchten Passagen hat das etwas Lähmendes, sofern man vergleichsweise jazzige Versionen wie beispielsweise von Gulda im Ohr hat. Selbst der verhalten „lesende“ Benedetti Michelangi benimmt sich in den motorischen Aufgaben unbekümmerter als Koroliov! Doch welche Einsichten in die Chemie, in die Bau- und Aufbauwunder dieser Préludes erlauben Koroliovs musikpathologische Sezierungen? Sie führen in das Innere dieser Gewebe, setzen für beängstigende und dann auch wieder beglückende Momente das Denken und Fühlen, alles je schon Erlebte außer Kraft. Sie zwingen auf friedfertige Weise, sich einem fremden, im nächsten Moment schon wieder familiären Erleben vorurteilslos auszusetzen. Gemeint ist aus meiner Sicht: die Intensität dieser Debussy-Enthüllung ist so stark, so krass, dass man sich getrost für mehr als 80 Minuten diesem fast schon als musikalisch-autistisch zu bezeichnendem Abenteuer anvertrauen sollte.
Peter Cossé
Audiophile Audition –
Eine in mehrfacher Hinsicht erstaunliche Aufnahme: Erstens handelt es sich um eine DVD-Audio, ein Format, das in letzter Zeit nur noch selten zu finden ist – und wenn, dann vor allem von AIX und Classic Records. Zweitens vereint sie sämtliche Préludes von Debussy auf einer einzigen Scheibe mit 87 Minuten Spieldauer – Tacet veröffentlicht seine High-Resolution-Aufnahmen zwar hauptsächlich auf SACD, behält die DVD-Audio aber für Programme vor, die die 80-Minuten-Grenze der SACD sprengen; und dieses hier ist ein solches. Drittens umfasst die Sammlung nun nicht mehr zwei Bücher zu je zwölf Préludes, sondern insgesamt 25 Stücke, da kürzlich ein 30-taktiges, bisher unbekanntes Prélude wiederentdeckt wurde, das Debussy während des Ersten Weltkriegs für seinen Kohlehändler komponierte – ein Mann, der ihn trotz Rationierungen mit Brennstoff versorgte und so die kalten Winter erträglich machte. Der Titel lautet „Les soirs illuminés par l’ardeur du charbon“ („Abende, erleuchtet von der Glut der Kohlen“). Viertens hat Tacet diese Soloklavieraufnahme für ihr „Real Surround Sound“-Wiedergabesystem abgemischt, wie zuvor bereits bei einer anderen DVD-Audio-Piano-Aufnahme – Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“. Ein wahrhaft einzigartiger Ansatz für die Wiedergabe von Klaviermusik auf Tonträger.
Doch beginnen wir mit diesem letzten Punkt: Ich glaube, hier ist eine Veranschaulichung angebracht: Debussy schuf in seinen Préludes und Études eine völlig neue, einzigartige Klangwelt, wie sie die Musik zuvor nicht kannte. Ähnlich revolutionär ging er mit dem Orchestralklang um, etwa in „La Mer“ oder den „Trois Nocturnes“. Zwar komponierte er für die übliche Konzertsituation – ein Konzertflügel auf der Bühne, das Publikum in einiger Entfernung – und obwohl er selbst einige Welte-Mignon-Klavierrollen einspielte, war die Aufnahmetechnik zu seinen Lebzeiten noch primitiv.
Da es sich hier um so außergewöhnliche Klavierwerke handelt und wir heute über mehrkanalige High-Resolution-Aufnahmen verfügen – warum sollte man diese nicht kreativ einsetzen, um den Hörer mit Debussys einzigartiger Klangwelt zu umhüllen? Genau das hat Tacet mit dieser DVD-Audio getan. (Sie verzichteten dabei auf den nächsten Schritt, den sie bei der Mussorgsky-Aufnahme als „Moving Real Surround Sound“ bezeichneten – ich erinnere mich, dass mir das damals etwas zu weit ging, und ohnehin wäre auf dieser Scheibe kein Platz für eine Wiederholung des gesamten Programms gewesen.) Der Mix ist so gestaltet, dass man das Gefühl hat, mittendrin zu sitzen – an einem gigantischen Flügel, der sich hufeisenförmig um einen herumkrümmt, wobei die tiefsten Bassnoten aus dem linken Rear-Lautsprecher und die höchsten Diskanttöne aus dem rechten Rear-Lautsprecher kommen. Die Wirkung ähnelt den binauralen Optionen der Zenph-Studios-Nachspielungen von Glenn Gould und Art Tatum, ist aber in der Ausdehnung und Platzierung der Klaviatur noch ausgeprägter.
Diese künstliche Erweiterung des Klangraums mag unnatürlich wirken, doch ich empfindet sie als höchst angemessen, um Debussys subtile Kunst in den Préludes in voller Tiefe zu erfassen. Manche Stücke sind extrem leise, mit langen Pausen, in denen die Töne nachklingen und verhallt, und einem ausgiebigen Gebrauch des Pedals. So sehr ich auch Mono-Aufnahmen der Préludes schätze – etwa die von Gieseking – oder die sensible, wenn auch rauschbehaftete Nonesuch-Einspielung von Paul Jacobs: Koroliovs Aufnahme klingt fast wie eine andere Komposition, weil sie Tonfarben und Effekte offenbart, die zuvor ungehört blieben. Nun wird deutlich, dass Debussy diese Musik „orchestrierte“ – dass er die Möglichkeiten des Klaviers auf eine Weise auslotete, wie es vor ihm kein Komponist tat: nicht nur in der Dynamik, sondern auch in der tonalen Extension, indem er alle 88 Tasten nutzte, selbst die extremsten Lagen. Dazu kommt das Verschmelzen ausklingender Klänge, unterstützt durch den gezielten Einsatz des Pedals. Einige Préludes werden langsamer gespielt, als ich es gewohnt bin, was mehr Raum für das Ineinandergreifen nachhallender Töne lässt. „La Cathédrale engloutie“ wirkt so weniger spektakulär, aber düsterer.
Evgeni Koroliov tritt weltweit auf und verfügt über ein breites Repertoire, doch besondere Anerkennung erhielt er für seine Bach-Interpretationen und -Aufnahmen. Seine erste Veröffentlichung bei Tacet war „Die Kunst der Fuge“; es folgten die „Goldberg-Variationen“ und „Das Wohltemperierte Klavier“. Seine glorreichen Einspielungen der Debussy-Préludes entführen den Hörer in eine andere Welt, und Tacets höchst ungewöhnlicher Ansatz macht es noch leichter, in diese Welt einzutauchen. Uneingeschränkt empfehlenswert!
(Falls Sie kein DVD-Audio-fähiges Abspielgerät besitzen: Denken Sie daran, dass Sie die Surround-Wiedergabe dennoch über jeden DVD-Player mit Dolby 5.1 genießen können – auch wenn kein Dolby-Logo auf der Scheibe zu finden ist. Der einzige Unterschied besteht in einem geringfügigen Verlust an Transparenz im Vergleich zur DVD-Audio-Option.)
John Sunier