237 CD / Scarlatti: Complete piano sonatas vol. 2
Beschreibung
Wider das Speed watching/listening
Domenico Scarlatti komponierte über viele Jahre, mehrere Jahrzehnte hinweg etwa jede Woche eine Sonate für seine königliche Klavierschülerin. So wuchs allmählich etwas heran, das man wohl mit Fug und Recht als sein Lebenswerk bezeichnen kann. Aber was bedeutet so ein Lebenswerk für uns heute? Eine Unmasse von Sonaten, 555 an der Zahl, deren grandiose Unterschiedlichkeit und Originalität sich eigentlich nur dem erschließt, der sie nicht en masse konsumiert, sondern etwa nur jede Woche eine, aber diese dann täglich eben so, wie sie gedacht war. Und schwups ist das Leben vorbei. Können wir dem heute überhaupt gerecht werden? Angesichts dessen erscheint Christoph Ullrichs und mein Unterfangen, die Produktion auf 17 Jahre zu strecken, angemessen. Übrigens arbeitet Christoph Ullrich gleichzeitig noch an anderen Lebenswerken, seinem großangelegten Kinderprojekt “laterna musica“ (vormals Ohrwurm-Projekt) etwa. So streitet in unserem veränderten Zeitempfinden der Versuch, Vergangenes wieder lebendig zu machen mit dem Versuch, modern und neugierig zu bleiben und der heutigen Zeit gerecht zu werden.
Der Kampf lohnt sich! Was für ein Abenteuer! Wer weiß denn, was nach diesen 17 Jahren los ist? Was machen die Finger, die Ohren? Gibt es dann überhaupt noch Musik? In all seiner Verspieltheit, Verrücktheit und Kindlichkeit, in seinem Tohuwabohu von Händetausch und Sinnlichkeit kann dieser Zyklus neben vielem anderen auch etwas ganz Besonderes zurückgeben: Die Erkenntnis, dass immer mehr und alles immer noch schneller zu machen auch nicht weiterhilft. Gelassenheit bei dem Gedanken, dass unsere Existenz endlich ist.
Weitere Informationen über das Scarlatti-Projekt.
Christoph Ullrich auf Youtube: Sonata in g moll K 8, Allegro und Sonata in C major, K 487, Allegro
3 Bewertungen für 237 CD / Scarlatti: Complete piano sonatas vol. 2
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Klassik heute –
–> zur Original-Kritik
Wenn hier der Pianist Christoph Ullrich seine zweite Folge der Scarlatti-Sonaten vorlegt und zugleich dem Hörer ans musisch schlagende Herz legt, dann sollte man nicht vergessen, dass der Herausgeber in seinem „Volume“-Betreiben einer gewissen Sprunghaftigkeit verpflichtet bleibt. Ullrich hat sich in seinem auf Langfristigkeit angelegten Projekt längst weiter hervorgetan, ja hervorgewagt, denn eine Einspielung aller Scarlatti-Sonaten erfordert Mut, Durchhaltevermögen und nicht zuletzt auch Unterstützung durch die mediale Vermittlungsinstanz eines diskophilen Herausgebers. Ullrich – das ist mein Eindruck von Edition zu Edition – hat sich in den wundersamen Miniaturenkosmos der rund 550 Sonaten eingearbeitet, ist eingetaucht auf der Grundlage von musikintellektueller Übersicht, von Begeisterung und zweifellos auch wachsendem Missionseifer, nämlich dem Musikfreund die Welt Scarlattis in all ihren kompositorischen und instrumental-kommunikativen Verästelungen nahe zu bringen.
In der vorliegenden Ausgabe befasst sich Ullrich mit den Sonaten Nr. 43 – 97 in Berücksichtigung des von Ralph Kirkpatrick vorgelegten „K“-Verzeichnisses. Ältere Hörer und unter ihnen echte Scarlatti-Enthusiasten hatten sich ja – nicht zuletzt unter dem Eindruck der Einspielungen von Horowitz, Ciccolini, Tipo, Zacharias oder auch von András Schiff – längst an den Longo-Kennungen orientiert und sich dementsprechend auch etwas unsicher zwischen den beiden Ordnungssystemen hin und her bewegt. Neue Nummerierungen werden erfahrungsgemäß nur zögernd angenommen. Die von der Internationalen Stiftung Mozarteum vorgeschlagenen, sozusagen auf den letzten Wissensstand gebrachten Köchel-Nummern haben sich aus diesem Grund im musikalischen Alltagsgebrauch nicht durchgesetzt.
Christoph Ullrichs Einspielung der genannten Sonaten-Folge zeigt den Interpreten auf pianistisch-gestalterisch hohem Niveau. Es handelt sich bei ihm, da bin ich sicher, um „lesende“ Bedachtsamkeit und in der Übermittlung um eine Mischung aus gezähmter Brillanz in den raschen Partien und überlegter Gefühlsentäußerung in den ruhigen, nicht selten auch erotisch angehauchten, also brodelnden, lodernden Sonaten-Passagen. In einer Gesamtaufnahme kann es der Ausführende freilich nicht umgehen, auch weniger attraktive Stücke einzustudieren. Es kann ja nicht überraschen, dass sich jene namhaften Pianisten, die sich wie Horowitz oder Ciccolini für Scarlatti ins Zeug gelegt haben, in ihren Repertoire-Entscheidungen ähnlich verhalten haben. Noch deutlicher wird dieses Verhalten, wenn es sich um Interpreten handelt, die in ihre Programme nur eine kleine Auswahl von drei bis fünf Sonaten einbeziehen. Ullrich gelingt es jedoch, mit Esprit und wenn nötig auch mit Feuer über manche musikalische Steifheit und Vorherhörbarkeit der Materie hinweg zu helfen. Wenn die Sonaten jedoch Charakter bezeugen und für den Pianisten dankbare Aufgaben enthalten, dann erweist sich Christoph Ullrich inzwischen als ein Scarlatti-Anwalt von höchster Autorität.
Christoph Ullrich bezeichnet im Begleitheft die Auswahl K 43 – 97 als „Scarlattis Wunderkammer: Der Band Venedig XIV“. Es handelt sich um den umfangreichsten Band in der venezianischen Marciana-Nationalbibliothek. Zwei Jahre hat er sich mit dieser Sammlung beschäftigt – und er verrät uns: „Was konnte ich alles in diesen kaum jemals beleuchteten Tropfsteinhöhlen finden und bewundern! Den einzigen Variationen-Zyklus K 61, eine Sonate, die fast ausschließlich aus Viertelnoten besteht – K 83 –, einige Tanzsätze, die aus einem verschollenen Suitenkabinett gefallen zu sein scheinen – Capriccio K 63, Gavota K 64, Gigha K 78.“ Die Sonaten mit Basso continuo K 81, 88 – 91 bereiteten Ullrich „einige Kopfschmerzen“. So kam es, dass er die Akkorde in den eigentlich als Triosonaten konzipierten Stücke K 88 – 91 einem Gitarristen übertrug. Das Resultat mit seinem Partner Stefan Hladek ist von unauffälliger Lebendigkeit und aufführungspraktischer Freizügigkeit, denn die Gitarre wird nicht nur im engen Rahmen des barocken Basso-Vokabulars eingesetzt wird.
Peter Cossé
klassik.com –
–> zur Original-Kritik
Das Zentrum des Scarlattischen Werke-Kosmos bilden 555 (Cembalo-)Sonaten, komponiert fast ausschließlich für seine königliche Elevin, die portugiesische Prinzessin Maria Bárbara de Bragança. Seit Beginn der Tonträgerhistorie haben sich zahllose bedeutende Cembalisten und Pianisten dem opulenten Tastentableau gewidmet, darunter Heroen wie Scott Ross, Vladimir Horowitz, Christian Zacharias, Mikhail Pletnev, Ivo Pogorelich, Alexis Weissenberg oder Dinu Lipatti. Auf höchsten spieltechnischen und interpretatorischen Standards fanden sie zu unterschiedlichen, bisweilen konträren Lesarten.
Relativ neu im Feld der Referenz-Aufnahmen sind die Einspielungen des Göttinger Pianisten Christoph Ullrich. Auf 17 Jahre angelegt ist dessen 2011 initiiertes Projekt einer Gesamtaufnahme der Sonaten. Die Zeit, das legen die bislang veröffentlichten CDs der Reihe nahe, scheint angemessen, denn Ullrich begreift jede einzelne Sonate als originären Kosmos mit eigenen Herausforderungen.
Tatsächlich steht Scarlattis Sonatenwelt für vielgesichtigen Zauber. Oszillierend zwischen Verspieltheit, Einkehr, Heiterkeit, Depression, Melancholie, tänzerischer Einlassung und Übermut, Witz oder Folklore-Idiomen, präsentieren sie wechselnde Stimmungen und spieltechnische Niveaus. Ullrichs Lesarten bieten nichts weniger als Feier der Nuance und Subtilität. Seine detailaffine Kunst kennt hunderte von Schattierungen, sein pianistisches Potential keine Grenzen. Vor diesem Hintergrund steht auch „Volume 2“ des Scarlatti-Projektes für mehr als nur Scarlatti-Exegese: Sie ist Hommage an den modernen Konzertflügel und seine Möglichkeiten.
Martin Hoffmeister
Audio –
Vol. 2 mit den Kirkpatrick-Nummern K 43-97 ist Folge fünf: Der Göttinger Pianist Christoph Ullrich begann seine Gesamteinspielung aller 555 (Cembalo-)Sonaten Scarlattis 2011 – ein gewaltiges Abenteuer. Die Darstellung auf dem Steinway wird dem ungeheuren Reichtum der Werke völlig gerecht. Ullrich verzichtet auf keine Wiederholung, was gerade langsamen Teilen der oft einsätzigenWerke zu hoher Eindringlichkeit verhilft. Er verzichtet aber auf Gefühlsduselei, sein Spiel ist rege, aber nicht aufgeregt, flüssig, aber nicht überströmend, variabel, aber nicht beliebig. Die Kombination mit dem Gitarristen Stefan Hladek in vier Sonaten bringt einen weiteren Reiz, den TACET-Tonmeister Andreas Spreer perfekt einfing.
Lothar Brandt