104 CD / Johann Sebastian Bach: Das Wohltemperierte Klavier II
Beschreibung
„Man überschreitet den Place de l’Alma, die Lichter der Stadt, die Unruhe von Paris. Man betritt den Eingang des Théâtre des Champs Elysées, die mondäne Konversation und ihre Nichtigkeit. Man nimmt Platz, das Publikum zögert, Schweigen einkehren zu lassen. Evgeni Koroliov betritt die Bühne, grüßt schnell, legt die Hände auf die Tastatur… Und siehe da, schon ist man fortgezogen in eine andere Welt …“ (Le Figaro)
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Crescendo –
Relativ frei im Umgang mit dem Notierten, was Tempi und Verzierungen angeht, spielt Evgeni Koroliov das Wohltemperierte Klavier. Und versteht es dabei, alles ganz plausibel und einfach klingen zu lassen. Immerfließend und mit leichten Anschlag macht er die Komplexität der Komposition über weite Strecken vergessen. Eine Auffassung des Werks, die durch den exzellent aufgenommenen, intim klingenden Flügel unterstützt wird. „Nur wenn man sich nicht mit der Musik identifizieren kann, entsteht so etwas wie eine Interpretation, eine Interpretation eben als Missverständnis“, schreibt Koroliov im Booklet. Dass er sich mit dieser Musik identifiziert, kann man an jedem Ton hören.
KH
Répertoire Nº 169 –
Nach seiner Einspielung von Das Wohltemperierte Klavier, Buch I (Répertoire Nr. 136, Bewertung 8) bestätigt der in Deutschland lebende russische Pianist Evgeni Koroliov mit dieser Aufnahme von Buch II seine interpretatorischen Entscheidungen und seine absolute Beherrschung dieses so komplexen Werkkorpus. Mit perfekter Gelassenheit enthüllen diese Aufnahmen wie ein aufgeschlagenes Buch die Schätze der Erfindungskraft der Präludien sowie die kontrapunktischen Zauber der Fugen.
Koroliovs Anschlag, von konstanter Schönheit und Dichte, sichert einen makellosen Verlauf der Stimmen – ganz ohne Effekthascherei in Artikulation oder Intonation, anders als etwa Glenn Gould damals oder Olli Mustonen heute. Stattdessen erinnert sein Spiel an die Fülle von Tatiana Nikolaevas Aufnahmen. Der Pianist wählt für jedes Stück den Spielstil (staccato, louré, legato), der dem gewählten Charakter am besten entspricht, und bewahrt dabei stets die beste Hörbarkeit der Stimmen in einem sorgfältig abgestuften Dynamikbereich vom pianissimo bis zum forte. Statt innerhalb der Stücke einzelne Passagen expressiv hervorzuheben, prägt er jedes Stück in der Gesamtheit seines Verlaufs.
Die Beziehungen zwischen Präludium und Fuge wirken dabei so durchdacht, dass sie sich fast in zwei Kategorien einteilen lassen: Stücke mit gemeinsamer Herangehensweise an Präludium und Fuge (Nr. 5: Klarheit und Elastizität; Nr. 9: Zartheit und Stabilität; Nr. 10: Leichtigkeit und Spannung; Nr. 15: wunderbares Geplauder; Nr. 16: Autorität und Deklamation; Nr. 19: ruhige Einfachheit; Nr. 21: lichte Heiterkeit) und Stücke mit kontrastierendem Verhältnis zwischen Präludium und Fuge (Nr. 1: Fülle/Tonizität; Nr. 2: Kraft und Präzision/Heiterkeit; Nr. 14: weite Atmung/Bestimmtheit; Nr. 17: Intensität und Ernst/spielerischer Geist; Nr. 23: unbeschwertes délié/ruhige Weite).
Jenseits dieses besonders kohärenten Ansatzes stechen einige herausragende expressive Gelingen hervor: Nr. 3 mit seinem herrlichen Schwingen über den arpeggierten Akkorden des Präludiums und dem Schwung in der Stimmenführung der Fuge; Nr. 18 mit der Klarheit und Vorwärtsbewegung des Präludiums, gefolgt von der vertrauensvollen Innigkeit der Fuge; Nr. 20 für die rätselhafte Zurückhaltung des Präludiums und die verzierte Aussagkraft der Fuge; Nr. 22 mit dem dichten Gewebe im ruhigen Präludium und der Spannung der Fuge, die bis zur grandiosen Strette gehalten wird; Nr. 24 mit der unberechenbaren Entfaltung des Diskurses im Präludium (mal abgesetzt, mal gelegt) und dem üppig sprudelnden, dabei perfekt stabilen Ausbruch der Fuge.
Noch mehr als bei den vielleicht weniger ausgefeilten Stücken von Buch I sind diese Präludien und Fugen des Buch II für Koroliov die Gelegenheit, sein intimes Verständnis dieser Texte, ihres Baus und ihrer harmonischen Fortschreitungen unter Beweis zu stellen.
Gérard Honoré
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französischer Originaltext:
Après son Livre I du Clavier bien tempéré (Répertoire Nº136, note 8), Evgeni Koroliov, pianiste russe aujourd′hui établi en Allemagne, confirme avec cette exécution du Livre II ses options interprétatives et son absolue maîtrise de ce si complexe corpus. Parfaitement sereines, ces lectures laissent se dévoiler comme à livre ouvert les trésors d′invention des Préludes tout comme les sortilèges contrapuntiques des Fugues. Le toucher de Koroliov, d′une constante beauté et densité, assure un parfait déroulement des voix, sans jamais recourir au moindre effet ni dans l′articulation ni dans l′intonation, à la différence de Glenn Gould hier, et par exemple d′Olli Mustonen aujourd′hui, et rappelle plutôt la plénitude des enregistrements de Tatiana Nikolaeva. Le pianiste adopte le style de jeu – staccato, louré, legato… – le plus conforme au caractère qu′il choisit de donner à chaque pièce, en conservant toujours la meilleure intelligibilité entre les voix, dans une plage de nuances soigneusement fixée du pianissimo au forte. Plutôt que l′opter, au sein des pièces, pour un soulignement expressif selon les épisodes, il choisit de caractériser chaque pièce dans la totalité de son déroulement. Les rapports entre Prélude et Fugue paraissent d′ailleurs si construits qu′ils semblent pouvoir se classer en deux familles: ceux qui permettent une approche commune pour le Prélude et la Fugue (nº 5 netteté et rebond, nº 9 délicatesse et stabilité, nº 10 délié et tension, nº 15 merveilleux babillage, nº 16 autorité et déclamation, nº 19 calme simplicité, nº 21 lumineuse sérénité), et ceux pour lesquels ce rapport est marqué par le contraste entre le prélude et la fugue (nº 1 plénitude/tonicité, nº 2 force et précision/sérénité, nº 14 ampleur de la respiration/affirmation, nº 17 intensité et sérieux/esprit ludique, nº 23 délié insouciant/calme ampleur). Au-delà de cette approche particulièrement cohérente, il faut aussi souligner les plus enthousiasmantes réussites expressives: le nº 3, avec son magnifique balancement sur les accords arpégés du Prélude, et l′élan dans la superposition des voix de la Fugue; le nº 18 et la clarté et l′avancée du Prélude suivie de la confidence recueillie de la Fugue; le nº 20 pour la retenue mystérieuse du Prélude et l′énonciation ornée de la Fugue; le nº 22 avec le tissage serré dans le calme du Prélude et la tension de la Fugue, maitenue jusqu′à la grandiose strette finale; le nº 24, imprévisible progression du discours sur un rythme tantôt détaché, tantôt posé dans le Prélude, suivi du jaillissement foisonnant et parfaitement stable de la Fugue. Plus encore qu′avec leurs prédécesseurs du Livre I, à la matière sans doute moins élaborée, ces Préludes et Fugues du Livre II sont pour Evgeni Koroliov l′occasion de montrer sa compréhension intime de ces textes, de leur construction et de leurs progressions harmoniques.
Gérard Honoré
KulturSPIEGEL –
Auf dem Olymp
Evgeni Koroliov, Purist aus Passion, hat sein ′Wohltemperiertes Klavier′ fertig.
Was soll daran so schwierig sein? Weshalb sind die zweimal 24 kurzen Stücke, von Klavierschülern ohne Verrenkungen bewältigt, ein solches Gebirge für Virtuosen? Vielleicht gerade weil Johann Sebastian Bachs ′Wohltemperiertes Klavier′ bei Kennern das Alte Testament heißt: Hier kann niemand als Akrobat auftrumpfen; alle – auch die Hörer – sind mit sich selbst und ihrer Musikalität allein. Unzählige haben versucht, das Geheimnis dieses barocken Tonarten-Kosmos aus Präludien und Fugen zu entschlüsseln, die Zahl der Aufnahmen ist Legion. Deshalb, auch deshalb, hat Evgeni Koroliov, der den Doppelzyklus schon mit 17 Jahren in seiner Vaterstadt Moskau aufführte, sehr lange gewartet, bis er ins Studio ging: Wer Tastenlegenden wie Edwin Fischer, Wanda Landowska, Samuel Feinberg, Swjatoslaw Richter, Rosalyn Tureck, Glenn Gould und vielen anderen Konkurrenz machen will, der muss einiges zu bieten haben. Erst jetzt, mit 53, fühlte sich der uneitle Klavierprofessor dem enormen Anspruch gewachsen. Das Ergebnis klingt schlackenlos, fern allem Denkmalkult und doch gefühlsstark. Vorbildlich transparent, aber nie klimpernd stellt Koroliov die Klangcharaktere hin. Denn für ihn folgt das olympische Werk (besonders der zweite Teil mit seiner, so Koroliov, ′reichhaltigeren Kost′) einem fast legeren ′Prinzip der Mannigfaltigkeit′, von anmutig und erhaben bis witzig oder gemütlich. Dafür brauche es keinen eigenwilligen Interpreten, sagt er, sondern schlicht einen ′Spieler′, dem es gelingt, ′mit der Musik eins zu werden′. Leicht gesagt – hier ist es einmal gelungen.
Johannes Saltzwedel
tz –
Eine der berühmtesten Fragen der Schallplatten- und CD-Geschichte – Welche Aufnahme würden Sie mit auf eine einsame Insel nehmen? – beantwortet einer der großen Komponisten unserer Zeit, György Ligeti, folgendermaßen: „Ich wähle Koroliovs Bach, denn diese Platte würde ich, einsam verhungernd und verdurstend, bis zum letzten Atemzug immer wieder hören.“
Nun gut, man muss ja nicht gleich verhungern und verdursten – aber eines garantieren wir Ihnen: Koroliovs Bach-Spiel macht süchtig. Jetzt hat der russische Pianist, der an der Hamburger Musikhochschule Professor ist, den zweiten Band von Bachs „Wohltemperiertem Klavier“ eingespielt. Mal wieder eine Einspielung? Nein. Vielleicht DIE Einspielung.
Koroliov hat alle Tugenden, um diese so komplexe Musik voll aufblühen zu lassen. Da gibt′s keinerlei Eitelkeit oder Exzentrik (wie man sie bei Glenn Goulds Bach – Entschuldigung – so oft hören kann), da erwachsen die kontrapunktischen Verflechtungen ganz organisch aus dem Thema. Himmlisch, was hier für unglaublich vielfältige, verästelte, dabei immer fest im Boden verankerte Geflechte entstehen!
Koroliov spielt äußerst präzise und kontrolliert, aber keineswegs nüchtern. Stets spürt man immensen Geist und gestalterischen Willen, der nie aufgesetzt wirkt. Wir kennen keine Aufnahme, in der jede einzelne Stimme so viel Gewicht erhält, so selbstständig und erhaben erklingt. Kann Instrumenlalmusik also schon im Barock politisch sein? Ja, in diesem Falle schon. Denn wie Koroliov mit den einzelnen Stimmen umgeht – das ist angewandte Demokratie…
Matthias Bieber
NWMagazin –
Auf leisen Sohlen erobert Evgeni Koroliov die Konzertsäle. Wer ihn einmal gehört hat, dem bleibt er vor allem durch sein Bach-Spiel in Erinnerung: Wegen seines intensiven Spiels, wegen seiner durchdachten und gleichzeitig auch emotional dichten Darstellung des Bachschen Kosmos′. In den 48 Stücken des zweiten Bandes zeigt Koroliov, der an der Hamburger Musikhochschule eine Professur inne hat, dass Bach mit diesem Teil des „Alten Testaments“ des Klavierspiels (so Hans von Bülow) einen deutlich höheren Komplexitätsgrad erreicht hat als im ersten Kompendium. Damit ist nicht etwa (nur) die Satztechnik gemeint, bei Johann Sebastian Bach immer und in allen Werken das Nonplusultra, sondern die Ausdifferenzierung der speziellen Charakteristika. Und wenn sich der Hörer auf Koroliov einlässt, was dieser große Pianist nicht nur zulässt, sondern suggestiv erzwingt, dann wird einem der geniale Kosmos dieser Stücke bewusst. Als ob Körper, Seele, Geist in idealer Balance sich befänden. Dabei wollte Bach doch nur Gebrauchsstücke für „lehrbegierige Jugend“ komponieren!
Genial
bri.
Hannoversche Allgemeine Zeitung –
Für angehende Klavierspieler gehört Johann Sebastian Bachs zweimal in Form von Präludien und Fugen komponierte Tastenwanderung durch sämtliche Dur- und Molltonarten zum Muss. Die Ehrfurcht vor dem Zyklus hat einst Hans von Bülow bewogen, das „Wohltemperierte Klavier“ als das das „Alte Testament der Klaviermusik“ zu charakterisieren. Die Interpreten, die sich auf Bachs Tonarten-Parcours begeben, musizieren mal ergeben, mal wie der vor zwanzig Jahren gestorbene Glenn Gould extravagant. Für Evgeni Koroliov, der nach vielen diskographischen Bach-Erkundungen nun den zweiten Teil des Wohltemperierten Klaviers eingespielt hat, gilt zunächst der überlieferte Notentext. Der 1949 in Moskau geborene und seit 1978 in Hamburg lehrende Pianist aber musiziert mehr als nur akkurat und präzis. Er färbt jedes Präludium entsprechend dessen durch die Tonart vorgegebenen Charakter und formt das mehrstimmige Geflecht jeder Fuge mit schier unermüdlicher Spiellaune modellhaft
Das Ergebnis ist alles andere als akademisch oder bloß museal. Evgeni Koroliov verlebendigt die ehrwürdige Vorlage. Er gibt sich nicht selbstverliebt und verzichtet auf oberflächliche Virtuosität, Wohl aber präsentiert sich dieser Pianist als ein erstklassiger Bachanwalt. Dessen auch klanglich ganz vorzügliches Plädoyer für Bachs Klaviermusik zehrt von kundigem Engagement und fundierter Liebe. Für Koroliov gehören Körper und Seele zusammen. Sein Bachspiel eint Verstand und Empfindung. Eben diese Verbindung lässt aufhorchen und staunen. Koroliovs Wanderung auf den Spuren Bachs durch die zwölf Dur- und zwölf Molltonarten ist ein künstlerischer Glücksfall.
Ludolf Baucke
Fono Forum –
Symbiotisch
Diese Doppel-CD bestätigt den ausgezeichneten Ruf des Interpreten und seines durchaus eigenen, modernen Bach-Spiel-Stils mit seinem facettenreichen Wechsel von analytischer Strenge zu Behutsamkeit. Das hebt Koroliovs Bach weit über jene oftmals frustrierende Stilistik hinaus, mit der einstens Pianisten wie Carl Seemann eine – damals noch verständliche – Nachkriegs-Sachlichkeit als Gegenstück zu den Ausläufern der romantischen Bach-Tradition pflegten. Diese wurde etwa durch Edwin Fischer und Arthur Loesser mit bewundernswerter gestalterischer, aber nicht unanfechtbarer Mannigfaltigkeit und Tiefensicht geboten, Koroliovs Bach hat einen weiterführenden, symbiotischen Charakter in seiner kontrastreichen, nie exzessiven Klarheit. Man fühlt sich hier nicht ausgeliefert, sondern angesprochen.
RA
WDR, Hörproben –
…In der Lautheit unserer Welt ist diese Musik mit diesem Interpreten ein Fluchtpunkt…
…Die Tiefe dieses Bach Spiels hat etwas reinigendes. Ihre Klarheit etwas schonungsloses..
Michael Krügerke
Piano News –
Nachdem im Bach-Jahr 2000 der 1. Teil des Wohltemperierten Klaviers des Thomaskantors in der Interpretation von Evgeni Koroliov erschienen war, überschlug sich die Presse mit Lobeshymnen. Zwei Jahre hat es gedauert, bis Koroliov nun den 2. Teil vorlegt. Und – um es vorweg zu nehmen – es ist eine ähnlich bestechende Einspielung entstanden. Wer allerdings bei Koroliov etwas Neues, etwas sehr Eigenwilliges oder Anderes zu entdecken hofft, der wird enttäuscht und muss sich an eine der Aufnahmen wenden, die von so vielen, gerade jungen Interpreten als Form der Selbstdarstellung auf dem Markt erhältlich sind. Koroliov ist ein Künstler, der sich immer hinter das Werk zurück nimmt, dies allerdings mit all seinem phänomenalen Können. Koroliov verfügt über eine perfide Anschlagkultur, die jede Nuance von Bachs Ideenreichtum widerzuspiegeln imstande ist. Zudem lässt er sich Zeit, lässt die Musik sich entwickeln, was heute nur mehr selten geschieht. Auf diese Weise kann der Zuhörer das Spiel und die Musik wirklich auf sich wirken lassen, hört Phrasen, die er vielleicht zuvor nicht so wahrgenommen hat.
Akzentuieren ist eines der wichtigsten Begriffe, die in der Interpretation von Bachs Klaviermusik im Vordergrund stehen. Und diese Akzentuierung scheint Koroliov wie natürlich zu verstehen. Genaueste Sforzati, pointierte Wechsel von Forte und Piano beleben sein Spiel. Er erfasst zudem das Werk tatsächlich zyklisch hat man den Eindruck. Denn der Fluss, der beim Hören dieser beiden CDs entsteht, ist fast zwanghaft. Man kann kaum aufhören, diesem genialen Bach-Interpreten immer und immer wieder zuzuhören.
Auch wenn man schon mehrere, auch vielleicht so großartige Einspielungen dieses Werks wie die von Richter in seiner Sammlung haben mag: diese sollte in jedem Fall daneben stehen.
Carsten Dürer
Stuttgarter Zeitung –
Ein Fixstern leuchtet selbst
Unberührt von den Aufgeregtheiten des Tages zieht Evgeni Koroliov seine Bahn. Für die Medien ist er kein Star am Pianistenhimmel, denen aber, die ihn gehört haben und seine Aufnahmen schätzen, erscheint er in seiner stillen Größe als Fixstern, als ein sehr weit entfernter, selbst leuchtender Himmelskörper also, der da oben festgezurrt zu sein scheint, in Wirklichkeit aber seinen Ort, wenn auch langsam, ändert.
Koroliov ist kein Blender und spielt nicht in der Liga der Selbstdarsteller, zur Vermarktung taugt so einer schlecht. Als einer, der wenig Aufhebens von sich und seinem Können macht, hatte er das Glück, dem richtigen Produzenten und Toningenieur zu begegnen. Nicht einer der Großmogule des Betriebs wollte ihn zu sich ins Boot holen – es war ein Glücksfall, Andreas Spreer, Gründer des Tacet-Labels in Stuttgart und ein Tüftler am Mikrofon, zu treffen. Spreer setzt auf die Ästhetik des unverfälschten Klangs. Nichts wird geschönt oder sonstwie manipuliert. Exzellent, mit keiner anderen Aufnahme zu vergleichen sind nach wie vor die Prokofjew-Einspielungen („Flüchtige Visionen“ Op. 22, „Sarkasmen“ Op. 17 und die Sonate Nr. 5 Op. 38, Tacet 32), vor allem die Schubert-CD mit einer ganz aus der Todesnähe der Musik heraus gestalteten großen B-Dur-Sonate und den Moments Musicaux (D 780, Tacet 46), Tschaikowskys nicht jedermann zugänglichen, kaum je einge- spielten „Jahreszeiten“-Zyklus (Tacet 25).
Und Bach natürlich. Bach ist die Zentralsonne im Leben des in Hamburg lebenden Pianisten und Klavierprofessors Evgeni Koroliov (53). „Die Kunst.der Fuge“ (Tacet 13), eine der im besten Sinne fragwürdigsten Gegebenheiten der Musikgeschichte. Nun hat er, nach Jahren des Zauderns und Zagens, mit dem zweiten Band die Aufnahme aller 48 Präludien und Fugen des „Wohltemperierten Klaviers“ abgeschlossen (Tacet 93 und 104). Als Mitschnitte von Konzerten der Internationalen Bachakademie Stuttgart liegen bei Haussier Classics die „Goldberg-Variationen“ sowie zwei weitere Bach-CDs vor.
Sein Bachspiel hält die Balance zwischen Intellekt und Emotion; es lehnt sich an die Melodie an und setzt druckvolle akkördische Akzente. Ein feuriger Geist begibt sich auf Innenschau. Koroliov schleift Kanten nicht ab und agiert hellwach. Damit entfernt er sich ebenso von dem hier feinfühlig romantisierenden Svjatoslav Richter wie von der Exegese des unorthodoxen Gould. (…)
Jürgen Holwein
Stuttgarter Nachrichten –
Lang gereift und frisch geerntet
Ohne lärmendes Aufsehen hat sich der russische Pianist Evgeni Koroliov in seiner fast vierzigjährigen Laufbahn langsam, aber stetig in den Olymp der größten Bach-Interpreten aller Zeiten emporgespielt. Bereits über eine seiner ersten Aufnahmen, die „Kunst der Fuge“, hatte der Komponist György Ligeti geäußert: „Wenn ich nur ein Werk auf die einsame Insel mitnehmen darf, so wähle ich Koroliovs Bach, denn diese Platte würde ich, einsam verhungernd und verdurstend, bis zum letzten Atemzug immer wieder hören.“ Seit Koroliov mit siebzehn Jahren das gesamte Wohltemperierte Klavier von Johann Sebastian Bach aufführte, reifte das Projekt in seiner Seele: Jetzt, mit Anfang fünfzig, hat er die CD-Aufnahme des Großzyklus mit der Veröffentlichung des zweiten Bands abgeschlossen.
Und wieder demonstriert Koroliov hier die ideale Verschmelzung von Intellekt und Gefühl, die seinen unverkennbaren Stil ausmacht. Wobei „demonstriert“ eigentlich völlig unzutreffend ist. Denn Koroliov nimmt sich selbst völlig zurück und alles kommt so selbstverständlich, als geschehe die Musik einfach und er höre lediglich dabei zu. Indem er diesen Eindruck entstehen lässt und doch jede Stimme souverän führt, ihr bewusst Raum zum Atmen lässt und nie eine Linie eben demonstrativ mit Leuchtstift markiert, schafft er Musik, die von Muskeln und Sehnen losgelöst scheint und zugleich voll urtümlicher Kraft ist.
bri
image hifi –
Bei Glenn Gould, dessen Bach-Spiel er 1957 in Moskau in einem Konzert erlebt hatte, gefiel Evgeni Koroliov, alle Stimmen hören zu können. Doch auch die ′romantischen′ Bach-Interpretationen Edwin Fischers bewunderte er. Koroliov hat sich trotz solch gewichtiger Vorbilder die ganz eigene Sicht auf den alten Meister nicht nehmen lassen, natürlich auch nicht von der Originalklang-Bewegung, die den modernen Konzertflügel bekanntlich beargwöhnt und JSB gerne für sich allein hätte. Koroliov nahm auf, und Andreas Spreer fing den Flügel nicht nur mit maßstabsetzender Natürlichkeit ein, er ließ dem als selbstkritisch geltenden Künstler auch Zeit zum Feilen. Anlässlich des Tacet-Label-Portraits habe ich die dabei entstandene Aufnahme des ersten Teils des Wohltemperierten Klaviers vorgestellt. Jetzt hat Koroliov den zweiten Teil (BWV 846-869) eingespielt, und wieder hört man fassungslos, wie jemand absolute Kontrolle mit einer nicht zu begründenden Beseeltheit zu verbinden weiß. Das ist unendlich viel größer als Goulds Exzentrik.
hg
Classics Today –
Referenzaufnahme: Diese hier
Wie schon in seiner großartigen Einspielung von Bachs Wohltemperiertem Klavier, Buch I, interpretiert Evgeni Koroliov auch Buch II aus einer klavierzentrierten Perspektive – nutzt dabei das volle Potenzial des Instruments an Klangfarben, Artikulation und Dynamik, ohne in stilistische Anachronismen zu verfallen. Es gibt so viele Details zu entdecken, dass man kaum weiß, wo man anfangen soll.
Sein ungewöhnlich langsames Tempo in der c-Moll-Fuge verleiht den kontrapunktischen Linien eine stärker vokale Qualität als üblich. Beachten Sie, wie wunderschön er die oft überhörte Oberstimme der linken Hand im Des-Dur-Präludium formt, oder das subtile Rubato, mit dem er die cis-Moll-Fuge phrasiert. Während das D-Dur-Präludium mit militärischem Pomp daherkommt, wählt Koroliov für die dazugehörige Fuge einen überraschend flinken, wendigen und witzigen Ansatz (ähnlich lebendig gestaltet er die As-Dur-Fuge).
Im Gegensatz dazu erinnert seine räumliche, ehrfürchtige Behandlung der E-Dur-Fuge an Glenn Goulds ebenso gedehnte Mono-Aufnahme. Anders als Angela Hewitt, die in der schwer zu entwirrenden g-Moll-Fuge mit dynamischen Effekten arbeitet, erreicht Koroliov klangliche Vielfalt durch sein meisterhaft kontrolliertes Staccato. In der gis-Moll-Fuge lässt er die Linien so schweben, dass ihre Akzente über die Taktstriche fallen statt auf ihnen zu liegen. Sein sanftes, nachdenkliches a-Moll-Präludium bildet einen markanten Kontrast zu der düstern, kompromisslosen Behandlung der dazugehörigen Fuge.
Was für eine Freude, Koroliovs autoritatives und individuelles Bach-Spiel in Höchstform zu erleben! Diese Veröffentlichung sollte man nicht verpassen!
Jed Distler
Klassik heute –
…Koroliov bietet keinen Bach, der uns in Rage bringt und auf die Barrieren steigen lässt, sondern in einem Zustand gelassener Ruhe und Ausgewogenheit versetzt, die für zwei Stunden die Welt ein wenig besser klingen lässt als sie wirklich ist.
Peter Cossé