"Es ist nicht ganz fair (aber Ligeti selbst ist daran nicht ganz unschuldig), seine genialen Etüden mit olympischen Disziplinen oder gar der Tour de France zu vergleichen, wobei das gelbe Trikot fast immer Pierre-Laurent Aimard zustände, auch im Sinne Ligetis. Aber wie langweilig wäre Interpretationsgeschichte, gäbe es keine Überraschungen! Erika Haase, eine schon immer höchst versierte Ligeti-Interpretin, legt hier eine durchaus anders akzentuierte, aber ebenso technisch phänomenale Version der Etüden vor. Sie ist eine Spur expressiver, eine Spur individualistischer, vielleicht „deutscher“ als Aimard – aber mit dieser deutlicheren Spur an Subjektivismus öffnet sie einen historischen Raum, der weit über Debussy hinaus zu Beethoven und Bach führt (bei Aimard hätte man nur von Debussy und Bach gesprochen). Dabei versteht Erika Haase, Ligetis Tempovorstellungen und die verschiedenen Superzeichen und Tiefenschärfen der polyrhythmischen Textur perfekt und makellos umzusetzen, gewiß etwas körperhafter als Aimard, und (etwa in Fanfares) nicht immer von vergleichbarer dynamischer Transparenz und Staffelung. Aber dafür gelingt ihr eine so konsequente Emotionalisierung der Musik, daß sie auch jene Hörer für diese große Musik gewinnen dürfte, die bislang wegen deren seiltänzerischer Kapricen eine gewisse Distanz bisher nicht überbrücken konnten. Und das wäre eine ganz großartige Leistung!"
Hans-Christian v. Dadelsen
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Hans-Christian v. Dadelsen
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