"Dead men playing:
Seit Telefunken 1957 die ersten monauralen 25-Zentimeter-LPs mit Überspielungen von Klavierrollen herausbrachte, rissen die Versuche nicht mehr ab, den Fundus von weltweit knapp 20.000 Papier-Tonträgern aus knapp dreißig Jahren neu zu erschließen. Denn sie halten das Spiel der berühmtesten Pianisten ihrer Zeit in einer Klangqualität fixiert, die bei weitem die Möglichkeiten damaliger Schellacks übersteigt. TACET setzt jetzt seine 2004 begonnene Serie "The Welte-Mignon-Mystery" fort mit den Bänden 4 und 5. Hört man in der neuen Reger-CD Frieda Kwast-Hodapp mit den Telemann-Variationen, so ist die Illusion doch schon sehr groß, "am anderen Ende" sitze jemand aus Fleisch und Blut an den Tasten und nicht ein schwarzer Kasten. Es schleicht sich sogar ernsthaft der Verdacht ein, ob die unter Fachleuten und Sammlern verbreitete Überzeugung vom prinzipiell geringeren Dokumentarwert der Rollen sich noch uneingeschränkt aufrechterhalten lässt.
Aber die beiden neuen CDs sind auch und vor allem inhaltlich reizvoll. Die Reger-CD bestätigt, dass Kwast-Hodapp mit Recht als eine der bedeutenden Pianistinnen ihrer Zeit gefeiert wurde. Ihre 1920er Einspielung ist schwungvoll und großzügig, sie überspielt (nach einigen Rubato-Mätzchen zu Anfang) wuchtig die etüdenhaften ersten Variationen, hält die Spannung und arbeitet die Schlusssteigerung eindringlich heraus. Ergänzt wird die Aufzeichnung durch zehn Stücke aus den Humoresken op. 20, den Intermezzi op. 45, den "Silhouetten" op. 53 und "Aus meinem Tagebuch" op. 82, die Reger selbst schon 1905 spielte. Einige von ihnen sind alte Bekannte. Hört man sie jetzt alle, nimmt die Achtung vor Regers Klavierspiel zu, das - hierin Kwast-Hodapp offenbar ein Vorbild - immer auf die Totale gerichtet war und ihr alle Einzelheiten unterordnete.
Die zweite "Mystery"-Novität hat sogar Knüller-Qualität: Sie stellt aus dem Welte-Repertoire Rollen von 19 der 24 Chopien-Etüden op. 10 und op. 25 mit insgesamt 15 Pianisten zusammen. Die Liste reicht von Berühmtheiten wie Pachmann, Essipowa, Paderewski und Sauer über Lhévinne bis zu damaligen Jungstars wie Schnabel, Horowitz, Elly Ney und Serkin, die hier als Twens zu hören sind (die Geburtsjahre für Paderewski und Horowitz sind falsch angegeben). Für die restlichen fünf Etüden trat an die Stelle des Vorsetzers Peter Orth, und man kann nun raten, ob die jeweilige Etüde von der Rolle kommt, oder leibhaftig gefingert ist - daher TACET′s Titel "Dead or Alive".
Dies ist nicht allzu schwierig. Aber der Grund liegt weniger im Klanglichen als im Pianistisch-Stilistischen: Orth spielt doch deutlich geradliniger und bemühter als die "dead men" (und "women"). Schnabel wirkt schon mit 23 Jahren überraschend hippelig und weit weniger "klassisch" als ausgerechnet Horowitz, Serkin ist glänzend in der "Sturm-Etüde", Emil Sauer bestätigt seinen Ruf als virtuoser Elégant. Bei der jungen Elly Ney bleibt in der cis-Moll-Etüde vor lauter Rubato kaum ein Ton auf dem anderen, und dass in der berühmten E-Dur-Etüde eine unbekannte Freiburgerin den vergötterten Ignaz Paderewski pianistisch und musikalisch glatt stehen lässt, ist nur noch eines der vielen weiteren Kuriosa, die diese CD bereithält: Ein Hörfest nicht nur für Klavier-Fans und Historiker!"
Ingo Harden
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Seit Telefunken 1957 die ersten monauralen 25-Zentimeter-LPs mit Überspielungen von Klavierrollen herausbrachte, rissen die Versuche nicht mehr ab, den Fundus von weltweit knapp 20.000 Papier-Tonträgern aus knapp dreißig Jahren neu zu erschließen. Denn sie halten das Spiel der berühmtesten Pianisten ihrer Zeit in einer Klangqualität fixiert, die bei weitem die Möglichkeiten damaliger Schellacks übersteigt. TACET setzt jetzt seine 2004 begonnene Serie "The Welte-Mignon-Mystery" fort mit den Bänden 4 und 5. Hört man in der neuen Reger-CD Frieda Kwast-Hodapp mit den Telemann-Variationen, so ist die Illusion doch schon sehr groß, "am anderen Ende" sitze jemand aus Fleisch und Blut an den Tasten und nicht ein schwarzer Kasten. Es schleicht sich sogar ernsthaft der Verdacht ein, ob die unter Fachleuten und Sammlern verbreitete Überzeugung vom prinzipiell geringeren Dokumentarwert der Rollen sich noch uneingeschränkt aufrechterhalten lässt.
Aber die beiden neuen CDs sind auch und vor allem inhaltlich reizvoll. Die Reger-CD bestätigt, dass Kwast-Hodapp mit Recht als eine der bedeutenden Pianistinnen ihrer Zeit gefeiert wurde. Ihre 1920er Einspielung ist schwungvoll und großzügig, sie überspielt (nach einigen Rubato-Mätzchen zu Anfang) wuchtig die etüdenhaften ersten Variationen, hält die Spannung und arbeitet die Schlusssteigerung eindringlich heraus. Ergänzt wird die Aufzeichnung durch zehn Stücke aus den Humoresken op. 20, den Intermezzi op. 45, den "Silhouetten" op. 53 und "Aus meinem Tagebuch" op. 82, die Reger selbst schon 1905 spielte. Einige von ihnen sind alte Bekannte. Hört man sie jetzt alle, nimmt die Achtung vor Regers Klavierspiel zu, das - hierin Kwast-Hodapp offenbar ein Vorbild - immer auf die Totale gerichtet war und ihr alle Einzelheiten unterordnete.
Die zweite "Mystery"-Novität hat sogar Knüller-Qualität: Sie stellt aus dem Welte-Repertoire Rollen von 19 der 24 Chopien-Etüden op. 10 und op. 25 mit insgesamt 15 Pianisten zusammen. Die Liste reicht von Berühmtheiten wie Pachmann, Essipowa, Paderewski und Sauer über Lhévinne bis zu damaligen Jungstars wie Schnabel, Horowitz, Elly Ney und Serkin, die hier als Twens zu hören sind (die Geburtsjahre für Paderewski und Horowitz sind falsch angegeben). Für die restlichen fünf Etüden trat an die Stelle des Vorsetzers Peter Orth, und man kann nun raten, ob die jeweilige Etüde von der Rolle kommt, oder leibhaftig gefingert ist - daher TACET′s Titel "Dead or Alive".
Dies ist nicht allzu schwierig. Aber der Grund liegt weniger im Klanglichen als im Pianistisch-Stilistischen: Orth spielt doch deutlich geradliniger und bemühter als die "dead men" (und "women"). Schnabel wirkt schon mit 23 Jahren überraschend hippelig und weit weniger "klassisch" als ausgerechnet Horowitz, Serkin ist glänzend in der "Sturm-Etüde", Emil Sauer bestätigt seinen Ruf als virtuoser Elégant. Bei der jungen Elly Ney bleibt in der cis-Moll-Etüde vor lauter Rubato kaum ein Ton auf dem anderen, und dass in der berühmten E-Dur-Etüde eine unbekannte Freiburgerin den vergötterten Ignaz Paderewski pianistisch und musikalisch glatt stehen lässt, ist nur noch eines der vielen weiteren Kuriosa, die diese CD bereithält: Ein Hörfest nicht nur für Klavier-Fans und Historiker!"
Ingo Harden
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