Wann ist ein Wunderkind ein Wunderkind? Wenn es über ein fotografisches Gedächtnis verfügt? Wenn es seine erste Klavierschule nach nur einem Monat abgeschlossen hat? Wenn es mit zehn Jahren alle 32 Beethoven-Klaviersonaten auswendig kann? Wenn dem so ist, war Camille Saint-Saëns ein echtes Wunderkind.
Der letzte große Höhepunkt Saint-Saëns′ Pianistenkarriere erlebte mit ihrem 75. Bühnenjubiläum ihren letzten großen Höhepunkt. Das war 1921, neun Jahre nach der Geburt von John Cage. Begonnen hatte sie 1846, drei Jahre vor Chopins Tod. Im November und Dezember 1905 begab sich der damals 70-jährige Saint-Saëns ins Welte-Studio, um an dem dortigen Flügel Aufnahmen zu produzieren. Jetzt liegen diese Mitschnitte in atemberaubend lupenreiner Klangtechnik als CD vor.
Saint-Saëns′ Klavierspiel zeichnet sich durch eine verblüffende Leichtigkeit aus. Selbst die virtuosen Passagen gelingen ihm mühelos und mit einer gewissen Eleganz. Der Komponist spielt luftig und schnörkellos, teilweise mit gewagt zügigen Tempi, wie in der folgenden Etüde von Frédéric Chopin.
Seine Gegner bezeichneten Saint-Saëns′ Klavierspiel gelegentlich als kühl und spröde, seine Bewunderer dagegen - darunter der Schriftsteller Romain Rolland - lobten die "vollkommene Klarheit". Saint-Saëns bietet auf dieser CD auch Bearbeitungen eigener Werke, darunter die "Rhapsodie d’Auvergne" - eine eigenartige Mischung aus Lokalkolorit, Salonstück und Konzertfantasie.
Man kann diese Reihe der Welte-Mignon-Aufnahmen in ihrer Bedeutung nicht genug schätzen. Gerade die Aufnahme mit Camille Saint-Saëns am Klavier liefert wichtige Einblicke in die damalige Spielkultur. Die oft freie Gestaltung der rechten Hand - bei starrem Rhythmus in der Linken - weist auf die Freiheiten hin, die sich die Musiker Ende des 19. Jahrhunderts erlaubt haben. Das erstaunt umso mehr, als vor allem Saint-Saëns als Präzisionsfanatiker galt.
Christoph Vratz
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