Von daher wäre es dringend geboten, in CD-Booklets die benutzte Notenausgabe stets anzugeben, damit der Benutzer weiß, woran er ist. Es versteht sich, daß das Musizieren nach älteren Ausgaben dadurch nicht automatisch schlechter wird, aber zweifelhafte Stellen werden erklärbar. So hatte der Rezensent der vorliegenden Einspielung der Quartette op. 50 von Joseph Haydn durch das Auryn Quartett die von Barrett-Ayres und Robbins Landon betreute Urtext-Ausgabe zur Hand, immerhin erste Adresse in Sachen Haydn, und die Parallel-Einspielung durch das ungarische Festetics-Quartett (Arcana 415, 2 CDs; gecoacht von Prof. László Somfai, ebenfalls erste Adresse bei Haydn) musiziert offenbar nach dieser Ausgabe. Wie ist es aber beim Auryn Quartett? Nehmen wir als Beispiel das B-Dur-Quartett op. 50/1. Im Kopfsatz erscheint in der 1. Violine im letzten Takt (108) vor der Reprise das Hauptmotiv des Satzes ausgehend von c‘‘ und endend aufwärts auf d‘‘, und so spielt es auch das Festetics-Quartett; hingegen hört man beim Auryn Quartett dieses Motiv eine Terz höher, also von es‘‘ ausgehend und dann abwärts auf d‘‘ endend. Eine Winzigkeit, gewiß, aber ein merkbarer Unterschied.
Wiederholungsvorschriften werden heute generell geradezu peinlich beachtet, das ist Standard unter seriösen Quartetten, unabhängig ob "historisch" oder "modern". Das Auryn Quartett macht hier im Prinzip keine Ausnahme – dennoch fehlt im F-Dur-Quartett op. 50/5 die Wiederholung des A-Teils im Trio des Menuetts. Warum?
Genug der Philologie: es geht ausschließlich um Klarheit der Voraussetzungen, nicht um die Interpretation. Denn die ist ausnehmend gut gelungen, spannungsreich, sorgfältig in der Satzcharakterisierung – etwa bei dem facettenreich und ausdrucksvoll gestalteten, tiefgründigen Variationssatz des Es-Dur-Quartetts op. 50/3, dem Andante o più tosto allegretto – und spieltechnisch von beeindruckender Souveränität. Noch einmal zum Vergleich: das Festetics-Quartett bietet eine korrekte, durchaus hochklassige Wiedergabe, aber oft wie es scheint an der Grenze der Möglichkeiten, eben bemüht. Beim Auryn Quartett hat man immer das Gefühl: die könnten noch zulegen. Das Spiel ist rhythmisch ungemein akkurat und gleichsam sprechend phrasiert, die Balance der Instrumente perfekt ausgehorcht, und viele Takte lange Sechzehntelpassagen blitzen wie eine Perlenkette. Dabei fehlt keineswegs das Moment der Spontaneität, etwa in den kurz improvisierten Solokadenzen bei Fermaten (was der damaligen Musizierpraxis entspricht) oder beim köstlichen Finalsatz des abschließenden D-Dur-Quartette mit den raschen Tonrepetitionen auf zwei Saiten in schnellem Wechsel (sog. "Bariolage"), ein verblüffender Klangeffekt, der an das Quaken eines Frosches erinnert, womit das Quartett auch gleich seinen Spitznamen weg hatte... Kurzum: eine modellhafte Wiedergabe dieser für die Gattungsgeschichte so wichtigen Werkgruppe.
Hartmut Lück
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