Der aus Göttingen stammende Pianist Christoph Ullrich befindet sich seit 2011 auf einer Reise durch die ebenso empfindsame wie turbulente Welt der insgesamt 555 Klaviersonaten (bzw. Klavierstücke) des italienischen Meisters Domenico Scarlatti. Ein nicht nur äußerst umfangreiches Projekt mit einer Unzahl von technischen und gestalterischen Grund- und Nebenproblemstellungen! Es scheint mir dieser Ausflug in die italienischen und später spanischen Territorien der Tastenvirtuosität einer zeitlich großzügig limitierten Lebensaufgabe gleichzukommen. Mehr noch: einem abenteuerlichen Unterwegs mit allen Beglückungen des totalen Schaffenserlebens, aber auch in Anbetracht der Gefahren von Ermüdung und Akademisierung.
In einer Hinsicht darf ich die über unseren Erdball weit verteilte Scarlatti-Gemeinde und natürlich alle Genießer feinsinnigen, mechanisch gut geölten Klavierspiels beruhigen. Christoph Ullrich ist mit den ersten zwei Tacet-CDs den meisten Scarlatti-Serientätern überlegen. Und dies vor allem der unsäglich trockenen, langweiligen, wie buchstabierend "gelesenen" Gesamteinspielung von Richard Lester, der sich für das Label Nimbus Records auf dem Cembalo, auf dem Hammerflügel und gelegentlich auch auf der Orgel auf 10 dicht gefüllten MP 3-Scheiben durch den Scarlatti-Kosmos gequält hat. Es stellt sich hier ja unwillkürlich die Frage, ob ein Musiker überhaupt in der Lage sein kann, eine solche Anzahl der Form nach meist einander ähnelnden Miniaturen mit überraschendem Leben zu erfüllen und zu übermitteln. Das heißt: sich in jeder Phase der Darstellung als ein Interpret zu beweisen vermag. Ein Kommunikator also, der sich mit aller Kraft und Fantasie einem Stück widmet, als sei es zum Zeitpunkt der Wiedergabe einzig und allein das ihm Wichtigste. Nicht von ungefähr kommt es ja, dass die bedeutenden Pianisten, die sich gleichsam im ästhetischen Kielwasser von Scarlatti-Protagonisten wie Wanda Landowska und Vladimir Horowitz ins Studio oder auf das Podium begaben, nach eigenem Empfinden und Vorstellungen eine Gruppe von Sonaten ausgewählt haben. Nur im Ausnahmefall programmierten sie auch eine ganze LP mit Sonaten, zuweilen sogar – wie etwa die Französin Marcelle Meyer – auch ein Doppelalbum. Domenico Scarlattis Stücke dienten im Allgemeinen als kleine Konzert-Ouvertüren, als so genannte Einspielstücke, als adrette, geläufige Werkleins, für deren zumindest saubere, behände Ausführung seitens der Kritik noch keine stilistischen Benimmnoten gegeben wurden. Oder man setzte sie als Zugabenformat ans Ende einer Werkfolge. Andächtigen Beethoven-Konsum oder anderweitig Bedeutsames entkrampfend, um auch den letzten Zuhörer von den fingertechnischen Möglichkeiten des jeweiligen Vortragenden zu überzeugen.
Vladimir Horowitz war es, der den ihm genehmen Scarlatti-Sonaten als Erster – oder zumindest als einer der Ersten – ein Flair von pianistischen Impressionissmus‘ verlieh, ihre mechanischen Abläufe und Experimente in weicherem, völlig uncembalistischem Licht einfing. Horowitz zauberte – meine ich – nicht nur, weil er mit diesen Vorlagen zaubern wollte, sondern auch, weil er es wie kaum ein anderer konnte. Und weil er sich traute…. , so wie er in späten Jahren Mozart ohne jegliche Angst vor dem ästhetisch erhobenen Zeigefinger der Fachkritik nach eigenem Gusto spielte (KV 488 mit Giulini etwa!).
Ich habe an das Ende dieser Überlegungen eine Auswahl an solchen Einspielungen gesetzt, die sich entschieden, also auch in größerem Umfang mit den Sonaten auseinandersetzen oder im Ausnahmefall auch in geringerer Anzahl interpretatorisch von Interesse bleiben. Zu den auffallendsten Leistungen dieser Art zähle ich dabei die Einspielungen von Aldo Ciccolini, Marcelle Meyer, Ivo Pogorelich, Christian Zacharias, Evgeny Sudbin und ganz besonders jene von Clara Haskil. Ihre wie von Trauer umflorte Westminster-Aufnahme der verhalten konzipierten Miniaturen gehören meiner Ansicht nach zum Berührendsten des gesamten Repertoires.
Christoph Ullrich nun leistet ganze Arbeit, zeigt sich als geschmeidiger, wenn nötig auch energischer Aufklärer über alles Hier und Jetzt der ersten 42 Nummern. In Bereich des Frühstadiums der Essercizi- und Sonatengestaltung Scarlattis sind die rein technischen Hürden noch verhältnismäßig human. Aber auch diese wollen bewältig werden! Dies bedeutet: keine der 30 „Übungen“ geht in die Richtung etwa einer bravourösen Tonrepetitionssonate wie jene in d-Moll (L 422). Man denke nur an die irrwitzig beschleunigten Live-Aufnahmen mit Martha Argerich!. Ulrich beschreibt in allen Umrissen, in der wergweisenden Horizontale wie in den harmonischen Vertikalen souverän das vorhandene Material, verleiht ihm Richtung, setzt Akzente und meidet jede Extrvaganz hinsichtlich der gewählten Zeitmaße. Mit Vorsicht – wie mir scheint – wählt und verteilt er Farbe, wodurch die atmosphärischen Werte in Richtung Helligkeit und Durchsichtigkeit tendieren. Indirekte Beleuchtung, geheimnisvolle Schattierungen gehören – hier im Frühwerk zumindest – nicht zu seinen expressiven Vorlieben.
Sicher kommt es dem hörenden Erleben zugute, nicht unbedingt alle 30 Studien sozusagen am Stück zu inhalieren. Ähnlichkeiten im werkspezifischen Timbre und im Umfeld der klaviertechnischen Umsetzung könnten unter diesen Umständen dem Interpreten angerechnet werden, obwohl er doch sein Bestes gibt. Ein wenig mehr an Raffinesse, an Bissigkeit und Humor freilich würde Ullrichs Unternehmen in den nächsten Veröffentlichungen nicht schaden. Die Sonaten mit den höheren Kirkpatrick-Nummern werden ihm sicher zu Ausweitungen des gestalterischen Spektrums Gelegenheit geben.
Für den Hörer ist es von Interesse, hier in einer dem Kirkpatrick-Verzeichnis von K 1 ab aufsteigend folgenden Wiedergabe zu entdecken, das von den 30 Essercizi 29 entweder als Allegro oder als Presto charakterisiert sind, lediglich die Nummer 30 in g-Moll ist mit Moderato überschrieben. Von den Sonaten Nr. 31 – 42 überraschen die Nummern 40 und 42 als klar deklarierte Menuette. Kaum jemand, der Sonaten Scarlattis aus diversen Klavierabenden oder von der selektiven Schallplatte her kennt, dürfte davon Kenntnis haben.
Die Edition ist in allen klanglichen und informellen Bereichen verantwortungsvoll gefertigt und gestaltet. Hilfreich wäre es, den kommenden Editionen auch die Longo-Zählweise beizugeben. Sie ist vielen Scarlatti-Enthusiasten vertrauter als die später angelegte, philologisch zweifellos bedachtere K-Zusammenstellung. Was es mit jenen „14 unveröffentlichten Sonaten“ auf sich hat, die von der japanischen Cembalistin für Erato (4509-94806-2) eingespielt wurden, könnte mit einer der späteren Ullrich-Ausgaben diskutiert werden, sofern Ullrich auch diese Stücke ins Kalkül zieht.
Peter Cossé<< back