Zwei Aspekte von unterschiedlicher Größenordnung sind mir bei der Beschäftigung mit dieser vorzüglichen Produktion wieder einmal recht gründlich aufgegangen. Zunächst, dass der moderne Textautor, wofern er es mit Werken des Standardrepertoires zu tun hat, nicht darauf verzichten sollte, sich die zur Diskussion stehende(n) Aufnahme(n) vor der Anfertigung seines Essays zu Gemüte führen, anstatt, wie man’s früher oft genug notgedrungenerweise hat tun müssen, nur aus mehr oder minder klugen Elaboraten zusammenzuraffen, was die vorgegebene Zeilen- und Seitenzahl mit einigermaßen lesbaren Darlegungen zu füllen vermöchte.
Es wäre dies umso wichtiger in Fällen wie dem vorliegenden, der mir – und damit komme ich zu dem zweiten, erheblich wichtigeren Punkt – als Musterbeispiel für eine in allen Belangen gelungene Einspielung demonstrierte, was das eigentliche und höchste Ziel der Wiedergabe sein sollte: ganz unabhängig von den benutzten Mitteln nämlich, sie seien historisch, historisch informiert oder modern, aus den Zeichen, die irgendwann von einem schöpferischen Geist als Ausdruck seiner selbst nieder- und festgeschrieben wurden, vermöge einer untadeligen Technik und Akustik nicht bloß schöne, reine Klänge zu (re)produzieren, sondern vor allem das Wesen dessen, der’s gefertigt, aus dem Papier dergestalt herauszulösen, dass der Creator wieder in lebendigen Kontakt mit uns tritt – ob zwischen seinem „Hingang” nun ein paar Jahre oder Dezennien, ob ganze Jahrhunderte liegen.
Ein solches Kunststück hat das durch die Bratschistin Nobuko Imai verstärkte Auryn Quartett jetzt mit den Streichquintetten von Wolfgang Amadeus Mozart vollbracht. Und das nicht, obwohl – sondern gerade weil das Ensemble auf jene neumodischen Überladungen verzichtet hat, die die seelisch-emotionalen Amplituden des Verfassers auf das Niveau des heutigen Neurasthenikers heraufschrauben und so für die Gegenwart erlebbar machen wollen. Vergebens werden wir auch nach der gern anämisch anmutenden Darmsaitigkeit suchen, der durch extreme Tempi und Stricharten ein künstliches Rouge aufgelegt wird. Die Natürlichkeit der Bewegungen, des Atmens, der Phrasierungen; die Selbstverständlichkeit der Übergänge und die, bei aller mitunter nötigen Virtuosität, nie auf gleißende Oberflächen hinauswollende Spielweise – das scheinen mir einige der wesentlichsten Elemente für das nahezu vollkommene Gelingen dieses Vorhabens zu sein: Die gelegentliche Nähe zu Ludwig van Beethoven beziehungsweise Franz Schubert verführt weder zur dramatischen Übertreibung noch zur nostalgischen „Thränenfluth“, authentische Verzweiflung missrät nicht zum wirkungsvollen „Erstickungstod”; Kapriolen und Provokationen werden nie albern oder etwa so beleidigend, dass dabei kostbares Porzellan zu Bruch ginge.
Weil nichts im Wege steht, kann das das unfassbare Wesen zu uns sprechen. Das ist der Verrückte, der partout zur Krönung nach Frankfurt musste, sich auf das völlig aufreibende Abenteuer des Titus einließ; der hinter der Fassade oft genug nicht wusste, wie’s weitergehen sollte; der zerbrechliche Charakter und drastische Spaßvogel voller Zweifel und enttäuschter Hoffnungen, hochtrabender Pläne und harter Landungen – der aber nie um Mitleid bettelt. Diese Gemeinsamkeiten, die spätestens seit dem c-moll-Quintett fühlbar sind, haben im aktuellen Falle den individuellen Erscheinungen nicht geschadet. Die fünf Musiker können es sich sogar leisten, sämtliche Wiederholungen (auch die der zweiten Kopfsatzteile) zu berücksichtigen und die Werke damit in ihren erheblichen Dimensionen zu realisieren, ohne dass sich die kleinste Gewöhnung oder Ermüdung breitmachen wollte – ausgenommen höchstens der erste Satz des KV 174, der ein wenig ins Kraut schießt, wie man’s bei Siebzehnjährigen mitunter schon beobachtet haben soll und wie’s in der Natur der Sache liegt. Dass daran nichts verändert wurde, erhöht noch einmal den Gesamteindruck und die Spannweite einer Produktion, an deren musikalisch-technischer Seite mir einfach alles gefällt.
Rasmus van Rijn<< back