Mit der vorliegenden 23. Folge endet die große, 2004 begonnene Welte-Mignon-Edition des Labels Tacet, die zahlreiche hochinteressante Interpretationen von Pianisten und Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts neu restauriert und in exzellenter Klangqualität am Steinway-Flügel gespielt zugänglich gemacht hat. In aller Kürze sei an dieser Stelle noch einmal das Grundprinzip umrissen: bei einem Welte-Mignon-Reproduktionsklavier wurde das Spiel eines Pianisten (inklusive dynamischer Feinheiten, Pedalverwendung etc.) auf gelochten Papierbändern gebannt, auf Basis derer dann die Interpretation mechanisch, aber eben inklusive nahezu aller Details wiedergegeben werden konnte, ein Musikautomat also, der das Spiel eines Pianisten weitgehend originalgetreu reproduzieren konnte. Insgesamt wurden mehrere Tausend solcher Aufnahmen produziert, die heute einen ganz faszinierenden (rauschfreien) Einblick in das Klavierspiel vor über 100 Jahren liefern.
Intellektuelles Klavierspiel und die Tradition des 19. JahrhundertsBei der letzten Folge, die zwei CDs umfasst, handelt es sich noch einmal um einen echten Höhepunkt, nämlich um Aufnahmen des großen Ferruccio Busoni (1866–1924), der bekanntlich nicht nur ein legendärer Klaviervirtuose war, sondern auch ein vorzüglicher Komponist, Musikessayist und Dirigent, ein wahrhaft universeller Musiker also. Auf dem Programm stehen neben dem vierten seiner Choralvorspiele nach Bach drei Stücke von Chopin und vor allem Musik von Franz Liszt, dessen Schaffen ein Fixpunkt von Busonis Repertoire war. Busoni galt als intellektueller, sachlicher Pianist, kein Tastenlöwe, sondern ein Interpret, der die Strukturen der Musik betonte, nach Klarheit strebte, nicht Virtuosität, sondern das Werk selbst in den Vordergrund stellte. Dies bedeutet allerdings keineswegs, dass für ihn der Notentext unantastbar gewesen wäre (Exaktheit ist ohnehin sicherlich nicht das, was das Wesen dieser Interpretationen ausmacht – hier und da wird man auch gewisse rhythmische Unregelmäßigkeiten oder leicht „klappernde“ Akkorde feststellen); in dieser Hinsicht steht er wiederum klar in der Tradition des 19. Jahrhunderts.
All dies kann man anhand der vorliegenden Interpretation – im Juli 1905 und März 1907 entstanden – ziemlich gut nachvollziehen. In Chopins Regentropfen-Prélude op. 28 Nr. 15 etwa ergänzt Busoni im Moll des Mittelteils die linke Hand teilweise um Oktavierungen, was der Musik eine bedrohliche Aura, eine ganz eigentümliche Schwere verleiht. Natürlich ist dies im historischen Kontext zu betrachten, aber es wäre verfehlt, darüber lediglich zu lächeln. Tatsächlich begriff Busoni Chopins 24 Préludes offenbar in erster Linie als Zyklus, in welchem das fünfzehnte als Achse fungierte, d.h. hier geht es weniger um einen Effekt als vielmehr um ein Mehr an Bedeutung; die Interpretation ergibt sich aus seiner Wahrnehmung des Gesamtwerks, selbst wenn dies mit Mitteln geschieht, zu denen man heute nicht mehr greift. Seine Einspielung von Chopins As-Dur-Polonaise op. 53 wirkt dagegen eher zurückgenommen, gebremst.
Meisterhaftes Gestalten großer ZusammenhängeWie bereits erwähnt, war es Liszts Musik, für die sich Busoni ganz besonders interessierte, und einige dieser Interpretationen sind wahre Sternstunden, exemplarisch vielleicht die der Norma-Fantasie. Hier zeigt sich, was Busonis Kunst wirklich ausmacht, und das ist speziell sein Sinn für das Gestalten großer Zusammenhänge, seine Fähigkeit, die Dramaturgie der Musik hervortreten zu lassen: zu jedem Zeitpunkt weiß man genau, wo (im Verlauf des Stücks) man sich gerade befindet, Busonis Gespür für die „Richtung“ der Musik ist exorbitant. Dabei ist sein Spiel orchestral, reich an Klangfarben und Nuancen, souverän darin, dem Melos zu folgen, die Harmonien auszuhören, die Liszt’sche Ornamentik als Farbgebung zu betrachten, ohne sie aber derart in den Vordergrund zu rücken, dass sie die Musik erdrückt. Bemerkenswert ist zudem, dass der immense Sog, den Busoni (speziell gegen den Schluss hin) erzeugt, nicht dadurch entsteht, dass er sonderlich forcieren würde (das tut er hier eigentlich ebenso wenig wie in Chopins Polonaise), sondern dadurch, dass er extrem klug dosiert und disponiert, und so kann er es sich sogar leisten, den allerletzten Akkord wieder etwas abzuschwächen, ohne die Schlusswirkung im Mindesten zu gefährden. Allein für diese meisterhafte Interpretation lohnt sich bereits der Kauf der CD. Schade nur, dass von Busoni keine Interpretationen (noch) größer angelegter Werke überliefert sind.
Faszinierende AufnahmenDas Beiheft liefert neben einer Vorstellung des Welte-Mignon-Verfahrens eine gute Einordnung von Busoni, seinem Klavierspiel und den hier versammelten Interpretationen im Speziellen. Lediglich bei der Trackliste hätte man etwas mehr Sorgfalt walten lassen sollen: dass es sich nicht Chopins Polonaise „op. 53 Nr. 6“ handelt, ist ohnehin klar, aber auch im Falle von Liszts Mélodies hongroises nach Schubert hätte z.B. der Verweis darauf, dass man es hier nur mit dem Mittelsatz zu tun hat, nicht geschadet. Das soll aber einem faszinierenden Dokument historischen Klavierspiels und großen Musizierens keinen Abbruch tun.
Holger Sambale<< zurück