Vorfreude herrscht beim Rezensenten, wenn er eine CD des Labels Tacet auf den Tisch bekommt. Noch größere Vorfreude, wenn es eine CD mit Evgeni Koroliov ist. Und helle Freude hatte der Rezensent beim Anhören und Immerwiederhören dieser ganz persönlichen Auswahl an Nocturnes, Études, Walzer und Mazurken von Frédéric Chopin. Der Pianist Leif Ove Andsnes hat einmal gesagt, manche Kompositionen würden mittelmäßige Interpretationen verkraften – Chopins Werke aber nicht. Bei Koroliov muss man da wirklich keine Angst haben.
Geheimnis des ErstaunensFür ihn ist jede einzelne Note kostbar, sein innig singender Ton lässt alles in allen Farben leuchten, er spielt nicht Melodien mit Begleitung, sondern webt alles aufs beziehungsreichste zusammen, sein Spiel ergreift einen sofort, begeistert und bezaubert. Koroliov ist wohl kein „Instinktspieler“ wie Arthur Rubinstein, sondern ein „Reflexionsspieler – der aber beim Spielen vergessen lässt, dass er gründlich reflektiert hat. Man hört – und sieht’s beim Mitlesen der Noten – wie Koroliov alle Vortragszeichen aufs genaueste beachtet, wie spannungs- und dann überraschungsvoll er jede Modulation gestaltet, wie meisterhaft er das Pedal bedient, wie fließend er die kostbaren Einzelnoten in einen melodischen Fluss integriert, der einen mitreißt, dem man sich liebend gerne anvertraut, in dem man wohlig schwimmen möchte. Des Schwärmens ist fast kein Ende. Als hätte Koroliov die „Aufzeichnungen über Chopin“ von André Gide gelesen, der da schreibt: „Jede Modulation bei Chopin – keine ist jemals banal oder vorhergesehen - muss diese Frische bewahren, diese fast ängstliche Erregung bei einem aufbrechenden Neuen, dieses Geheimnis des Erstaunens, dem die wagemutige Seele sich auf ungebahnten Wegen aussetzt, auf denen man die Landschaft nur nach und nach entdeckt.“ In der Tat wandelt Koroliov das Geheimnis des Erstaunens um in die Freude des Zeigens – und alles mündet in die Dankbarkeit des Hörens.
Melancholische EleganzUm es im Einzelnen zu sagen: Duftig farbensprühend kommt der Walzer op. 70 Nr. 2 daher, in herrlich klingendem und ziehendem Legato und etwas müd-melancholischer Eleganz schwebt der Walzer op.64 Nr. 3. Klar schimmert in der Étude op. 10 Nr. 6 der polyphone Satz durch gegen alle impressionistischen Auflösungstendenzen, pastellfarben leuchtet die Étude op. 25 Nr. 2 und die äußerst reizvolle Balance der gegenläufigen Rhythmen in der ersten der Trois nouvelles études lässt den Hörer ins angenehm benommene Schwindeln geraten.
Klang der TuberoseVor allem aber die Nocturnes bereiten das intensivste Hörvergnügen. Fantastisch löst sich das Nocturne op. 55 Nr. 1 am Ende in triolisches Sternengeglitzer auf, traumverloren verebbt der Klang im Nocturne op. 62 Nr. 1 vor dem Triller, der das As-Dur wieder zurückführt nach h-Moll: Im angelsächsischen Raum heißt dieses Nocturne die „Tuberose“, weil die Hauptmelodie einen „fruchtigen Charme“ habe und ihre Rückkehr in die Reprise schwach sei „mit einem kranken, reichen Geruch“, wie James Huneker es formuliert.
Das Nocturne op. 37 Nr. 1 ist der Favorit des Rezensenten: Hier herrscht ein fortwährendes Drängen und Zurückweichen, die Bassbegleitung in den Takten 17/18 wirkt wie ein inständiges wiederholtes Flehen und endlich einmal singt der Choral im Mittelteil nicht in beschleunigtem Tempo, sondern im Wallfahrtslied-Schritt-Tempo mit ersterbender Verlangsamung am Ende, so dass alles sich wohlig wieder in den elegischen Wiegelied-Singsang bettet, wobei diese Reprise das Thema noch schmerzvoller und noch wehmütiger erscheinen lässt als zu Beginn: Das Thema hat etwas durchgemacht, hat etwas erlebt, ist gereifter.
Nur die drei Mazurken wünschte sich der Rezensent kraftvoller, energischer, markiger, chevaleresker, weniger ätherisch, weniger von den Nocturnes angekränkelt. Da ist Rubinstein dem Rezensenten lieber – aber nur da. Hervorragend ist der sonor-füllige Klang des Steinways im Raum der Jesus-Christus-Kirche in Berlin eingefangen, charmant-persönlich beschreibt Wolfgang Wendel im Booklet Koroliovs Verhältnis zu Chopin.
Rainer W. Janka<< back